Wege raus aus dem Dunkel
„Roh und nackt sich zu zeigen, war unghörig“*
„Roh und nackt sich zu zeigen, war unghörig“*

„Roh und nackt sich zu zeigen, war unghörig“*

Sprachlos stehe ich vor ihm. Starre ihn an. Ihn. Diesen athletischen Mann in seinem maßgeschneiderten, seine Figur perfekt betonenden Anzug. Mit der farblich abgestimmten Krawatte, die das intensive blau seiner Augen noch mehr zum Strahlen bringt. Ihn. Mit seinen braunen Lederschuhen, in denen ich mich spiegeln könnte, hätte ich das nur gewollt. Diesen Mann mit seinem vollen braunen Haar, das perfekt ungemacht gemacht ist. Dessen Selbstsicherheit aus jeder Pore fließt. „Komm schon Kate… Du weißt doch, wie meine Eltern sind. Zieh dir bitte etwas Vernünftiges, Vorzeigbares an. Ein wenig Make-up würde auch nicht schaden… Du siehst ein wenig abgeschlagen, müde aus. Ein wenig Rouge wäre nicht verkehrt. Und vielleicht die Augenringe abdecken?“ Da waren sie wieder. Diese Worte. „Vernünftig. Vorzeigbar.“ Wer bin ich denn? Seine Vorzeigetrophäe? Ein bisschen Make-up… Was glaubt er eigentlich, wer er ist? Er wusste doch genau, auf wen er sich einlässt. Wer ich bin. „Ist das dein Ernst?!“, schieße ich ihm entgegen. „Ich habe extra wegen dieses besch… Abendessens stundenlang im Bad gestanden. Habe wie eine Irre die Farbe von meinen Händen, Armen und aus dem Gesicht geschrubbt. Aus meinen Haaren gekämmt und herausgewaschen. Ich habe komplett farbenfreie Klamotten an und ganz abgesehen davon – ich finde mein Kleid sehr hübsch! Du tust gerade so, als stünde ich hier farbübersäht in zerschlissenen Lumpen vor dir. Aber nein – diesen Teil von mir habe ich bereits entfernt. Ich fasse es nicht, dass du mir jetzt so kommst Darf ich mich denn gar nicht mehr wie ich selbst fühlen?! Zumindest ein ganz kleines bisschen?!“

„Doch natürlich…“, stammelt er. Kurz wirkt er verunsichert. Seine Augen flackern. Doch nur für eine Millisekunde, dann ist er zurück. „Aber du musst doch einsehen, dass ausgerechnet DIESES Kleid vollkommen unangemessen ist für das Treffen mit meinen Eltern, oder? Ich meine, was sollen die denn denken?!“ „Ja, was sollen die denn denken? Was sagt das Kleid denn deiner Meinung nach aus?“ „Ach komm schon Süße…“, er kommt auf mich zu, legt die Hände auf meine Schultern. „Jetzt sei doch nicht so… Du weißt, was ich meine.“ „Nein.“ Trotzig stehe ich vor ihm. Natürlich weiß ich genau, was er meint. Aber ich will, dass er es sagt. Es ausspricht. „Katie… Du weißt wie sehr ich dich liebe. Und wie sehr ich dich auch in diesem Kleid liebe. Aber für diesen Abend… In diesem Kleid… Da siehst du einfach zu sehr…“ Ich gucke ihn still und erwartungsvoll an. …. ….. „Nun ja… Eben ein wenig zu sehr wie du selbst aus…“

Klatsch! Die verbale Ohrfeige sitzt. Obwohl ich genau wusste, was kommt, stehe ich fassungslos da. Er hat es wirklich gesagt. Gewagt, es auszusprechen. Aber wusste ich das nicht eigentlich immer? Habe ich die Anzeichen nicht gesehen? Doch, nur wollte ich sie nicht sehen. Es nicht wahrhaben. Gefasst und mit kühler Stimme sage ich: „Du meinst, nicht schick genug? So wie deine anderen Freundinnen? Nicht fein genug? Nicht teuer genug? Nicht reich genug? Zu bunt und chaotisch? Zu sehr nach Kunst und Farbe? Zu sehr nach Kreativität? Zu alternativ? Zu sehr nach Ausbruch? Zu sehr nach Freiheit? Zu laut? Zu auffällig? Zu natürlich? Zu zur nach Leben? Zu „roh und nackt“??“

„Nein, natürlich…“ „STOPP! Nichts was du jetzt sagst, ändert etwas. Ich weiß, deine Eltern haben diese merkwürdige Einstellung „Roh und nackt sich zu zeigen, ist ungehörig!“. Was auch immer das bedeuten soll. Aber ich habe keine Lust mehr, mich zu verstellen. Jemand zu sein, der ich nicht bin. Jemanden vorzugeben, der ich nicht bin. Ich bin so wie ich bin. So bleibe ich. Entweder du akzeptierst mich so, wie ich bin, oder eben nicht. Das ist allein deine Entscheidung.“, sage ich, drehe mich um und gehe zurück ins Atelier.

*[Zitat aus: „Freude soll erwachsen werden“, von Rosemarie Stresemann]

Anmerkung:
Text: Juni 2022.
Foto: Mai 2022.

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