Aufnahme: Poetry Slam im Blue Shell im September 2023.
PERFEKTE HÜLLE
Du. Du hast das, was die anderen als „perfektes Leben“ beschreiben. Haus, Auto, Mann und zwei kleine Kinder, Ferienhaus im Süden, daneben bist du erfolgreich im Job und gut aussehen tust du auch. Du bist Ende dreißig, beruflich hast du es zur Teamleitung gebracht, deine KollegInnen respektieren und mögen dich, gucken zu dir auf und wünschen sich, ein wenig so zu sein wie du.
Du bist schlank und sportlich gebaut, Yoga machst du regelmäßig und joggen gehst du auch, wenn die Zeit es dir erlaubt. Deine hellbraunen Haare trägst du lang, das macht man so als Frau, wurde dir gesagt, Tattoos, die du gerne hättest, hast du nicht, denn sowas macht man nicht, Mascara trägst du auch mehr brauchst du nicht, du bist von Natur aus extrem hübsch. Eine Naturschönheit eben.
Für deine Kinder tust du alles, Charlotte liebt Pferde und Ballett, Jonas fährst du zum Fussball, zweimal pro Woche an den Rand der Stadt, die Spiele am Wochenende gehören natürlich dazu, dann jubelst du alleine deinem Sohnemann zu, während dein Mann sich zu Hause erholt. Der Haushalt wird neben her erledigt, eine Putzfrau braucht ihr nicht, es ist doch immer sauber, sagt dein Mann, der vermutlich nicht einmal weiß, wo sich das Putzzeug befindet.
Dein Mann. Ja, der ist sehr erfolgreich, sieht ebenfalls gut aus, selbstverständlich hältst du ihm den Rücken frei und begleitest ihn zu Geschäftsessen, wenn er das will. Kommt er abends erschöpft nach Haus, tischt du bereits das Essen auf – regional, ökologisch und natürlich selbst gekocht. Ab und an habt ihr auch mal Sex, deinen Orgasmus fakest du mittlerweile perfekt, denn kommen? Das tust du schon lange nicht mehr, doch beschweren, dazu fehlt dir die Kraft. Dein Satisfyer liegt versteckt in einer Schublade – verborgen vor deinem Mann, der mit Sexspielzeug so gar nichts anfangen kann. Viel zu selten kommt deine elektronische Freundin auch mal dran, während dann vor deinem inneren Auge die attraktive Kellnerin aus deinem Lieblingscafé auftaucht, doch das kannst du nun wirklich keinem erzählen.
Am Sonntag triffst du dich einmal im Monat mit Katharina, Johanna, Eva und Mona zu Aperol Spritz, wobei deiner stets ohne Wasser ist – sowas brauchst du absolut nicht, schließlich soll er möglichst schnell knallen, anders kannst du die Treffen nicht ertragen. Geübt manövrierst du dich durch alle ihre Fragen, hältst sie oben, die Fassade, „dein perfektes Leben hätte ich sooo gern“, ruft Eva dazwischen.
Ja, denkst du, hörst kaum mehr zu, hoffst innerlich einfach nur, dass der Sekt deinen Kopf vernebelt und alles für einen kurzen Moment erträglicher wird. Du spürst schon lange keine Freude mehr, die Antidepressiva die du seit Jahren heimlich nimmst wirken auch nicht mehr – du puscht sie mittlerweile mit Ketamin am Morgen, anders kommst du nicht aus dem Bett.
Den Tag überstehst du im Funktionsmodus, du hinterfragst nichts, sondern tust und tust nur das, was man von dir erwartet. Dein Gehirn funktioniert wie fremdgesteuert, Gefühle spürst du gar nicht mehr, diesen Luxus kannst du dir nicht leisten.
Kommst du nach Hause, ist deine erste Tat das Einschenken von Wein in dein Glase – das hast du dir verdient, das ist dein Ritual, notwendig, um durch den Abend zu kommen.
Merken tut das niemand, solange du funktionierst interessiert es nicht, wie. Hauptsache, das Abendbrot schmeckt, der Tisch ist pünktlich gedeckt und alle sind zufrieden. Alle, nur du eben nicht.
Wenn du ganz ehrlich zu dir bist und das traust du dich meistens nicht, sieht dein perfektes Leben komplett anders aus. Du würdest gerne stadtnäher leben, Frauen treffen, deinen Job aufgeben und stattdessen etwas Sinnvolleres tun. Deine Kinder liebst du, ja klar, doch ab und an Ruhe von ihnen wäre wunderbar, einfach mal Zeit für dich, ohne dass minütlich von irgendwoher ein „Mamaaaaaaaa“ tönt. Doch sowas darf man nicht zugeben, seine Kinder muss man immer lieben – das gehört sich so.
Du willst mit einer Frau zusammenleben, auf Männer stehst du gar nicht so unbedingt, doch irgendwie bist du in dieser Situation gelandet. Du wünschst dir, den Haushalt zu teilen, eine Beziehung zu leben die aus Geben und nehmen besteht, wie es deiner Meinung nach sein sollte.
Du würdest gerne ein Hobby ausüben, Zeit für dich haben, Hilfe annehmen und Freunde finden, mit denen du offen reden kannst, Problem teilen, vielleicht auch mal weinen und einfach ein wenig loslassen.
Doch das bleibt wohl weiterhin ein Traum, die Kraft zu gehen, etwas Neues aufzubauen, die hast du einfach nicht. So machst du weiter, Schritt für Schritt, verlierst dich dabei tagtäglich ein bisschen mehr, bis es dich nicht mehr gibt, du nur noch als Hülle existiert, aber immerhin „perfekt“.
Erschöpft liegst du nun in deinem Bett, dein Mann schnarcht schon lange ohne Rücksicht, deine Gedanken fliegen umher: „Morgen“, denkst du, wie jeden Abend, „Morgen werde ich es wagen, mir selbst helfen, mich befreien, einen neuen Weg wagen. Morgen… Morgen, aber heute nicht mehr“, ist der letzte Gedanke, bevor auch dein Atem schwer wird und du abtauchst in die Traumwelt.
Anmerkungen:
Text: Gedankenspiel. Die Funktionalität, in der viele Menschen so oder so ähnlich feststecken.
Foto: Mai 2023.