Die Anspannung pulsiert durch meine Adern. Ich fühle mich erschöpft und gleichzeitig wie unter Strom. Ich rufe dich an, will gerade nicht alleine seine. Meine Gedanken rasen. Ängste versuchen ihren Weg nach oben zu bahnen. Mein Körper schreit: Du bist zu müde, dreh um!
Bitte geh’ ans Telefon
Zum Glück gehst du ans Telefon. „Bist du draußen?“, fragst du mich. „Jaaaaaaaaaaaa!! Auf dem Weg zu meinem ersten Konzert seit Jahren.“, sage ich. „Alleine.“, füge ich in Gedanken hinzu. Ich hatte keine Lust jemanden zu fragen, ob sie oder er mit möchte. Ok, das stimmt nur so halb. Denn wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich hier niemanden, den ich fragen könnte. Das ist in Ordnung. Denn alleine fühle ich mich flexibler. Muss mich auf niemanden einstellen. Mit niemandem reden. „ICH DREHE DURCH!“, sage, nein schreie ich ins Handy. „Meeeega angespannt einfach!!!!“ Kurze Pause. Ich überlege, ob du aufgelegt hast. Nein, hast du nicht, deine Antwort kommt nur verzögert.„Angespannt?“, fragst du. “Ja man!”, sage ich und du fragst: “Wieso?”
Menschen, Corona und der Alkohol
„Menschen“, sage ich. „Viele Menschen. Und Corona. Und…“, ich schweige kurz. Schäme mich. Überlege, ob ich es überhaupt anspreche. Doch es bist ja du. Da brauche ich mich nicht schämen. Du verstehst mich, das weiß ich. Meine Pause dauert zu lange. „Und…was?“, fragst du. „Naja…“, setze ich an. „Du weißt schon. Alkohol…“ „Alkohol?“, fragst du. Ich verdrehe innerlich die Augen. Du weißt doch ganz genau was ich meine. Warum soll ich das jetzt aussprechen?! Ich rede trotzdem weiter. „Ja, Alkohol. Du weißt schon. Unter Menschen sein ohne etwas zu trinken?! Auf einem Konzert sein, ohne etwas zu trinken?! Wie soll das funktionieren?“ „Ok, das verstehe ich!“, sagst du und fügst hinzu: „Ich war am Wochenende auch unterwegs. Mit einem Kumpel. Vorher habe ich auch fast abgesagt, weil es mich so unter Stress gesetzt hat.“ „Du warst unterwegs?! Das hast du mir gar nicht erzählt…!“ „Ja, ganz spontan. In Köln. Pool spielen. Aber es war gut. Hat gut geklappt. Du wirst sehen – es funktioniert und danach wirst du dich freuen, dass du es gemacht und geschafft hast!“, sagst du und ich merke, wie etwas in mir kippt.
Mit voller Wucht von Zuneigung zu Eifersucht
Laut und deutlich klickt es in mir und sofort verspüre ich eine tiefe Eifersucht. Fühle mich verraten. Du warst in Köln mit einem Kumpel?! Wieso machst du was mit anderen Leuten, aber nicht mit mir?! Was soll der scheiss?! Was bedeute ich dir eigentlich? Bin ich dir überhaupt wichtig?! Wieso willst du keine Zeit mit mir verbringen?! Das alles denke ich nur, sage es nicht. Denn ich weiß, dass diese Eifersucht unbegründet ist. Keinen Sinn macht. Dass ich etwas auf dich projiziere, was du nicht bist. Etwas von dir haben will, was du mir nicht geben kannst. Und vielleicht – nein wahrscheinlich – ist sie ohnehin nicht angemessen. Kein Gefühl, das sich direkt aus dieser Situation ergibt, vielmehr ein altes. Von früher irgendwann. Das absolut nichts mit dir zu tun hat. Gepaart mit der Angst, dass du wen anderes findest, mich nicht mehr brauchst. Denn ich brauche dich! Vermeintlich. So fühlt es sich an. Denn ich stehe in einer starken Abhängigkeit zu dir. “Favorite Person” nennt sich das so schön bei Borderline. Das weiß ich. Ohne dich – wie soll das funktionieren?! Meine Gedanken rasen. “STOPP!”, sage ich innerlich. Dieses Gefühl kenne ich. Es ist alt. Es ist nicht angemessen. Es ist nicht hilfreich. Es ist ok, dass es da ist, aber es ist in dieser Stärke nicht situationsangemessen. Ich bemerke es und habe mich dadurch ziemlich schnell wieder unter Kontrolle. Denn ich freue mich doch für dich. Finde es gut, wenn du unter Menschen gehst. „Hallo?! Noch jemand da??“, fragst du und ich erwache aus meiner Trance. Meine Gedanken kommen wieder im Hier und Jetzt an. „Ja, du hast vermutlich recht. Wird schon gehen.“, sage ich. Jetzt bin ich auch da. Es ist kurz vor 20 Uhr, das Konzert geht gleich los.
Maske auf – Kopf aus
Ich gehe rein. Es gilt keine Maskenpflicht mehr, aber ich ziehe meine auf. Damit fühle ich mich sicherer, wenn ich schon unter Menschen gehe. In einem geschlossenen Raum bin. „Es ist ja gar nicht so voll“, ist mein erster Gedanke. Gefolgt von: „Mist, ich habe vergessen, dass man hier Merch kaufen kann – wieso habe ich nicht mehr Geld mitgenommen?!“ Egal. Ist jetzt so. Vermutlich brauche ich ohnehin nichts. Denn was braucht man schon?! Was auch immer das sein mag – Merch gehört nicht dazu. Ich gehe in den Saal. Auf der Bühne sitzt Charly, eine Singer-Songwriterin, von der ich vorher noch nie etwas gehört habe. Sie gefällt mir sofort: Ausgefallenes Aussehen mit blauen, kinnlangen Haaren, einem schwarz-weiß-gemusterten Outfit und einem gelben Top. Die Gitarre in der Hand und Lieder zum Mitsingen. Auf deutsch. Zum Mittanzen. Sie strahlt Lebensfreude aus. Spaß an dem, was sie tut. Herzblut. Schade, dass ich nicht von Anfang an da war. Ich habe allerdings auch nicht damit gerechnet, dass es schon vor 20 Uhr los geht. Ich gucke mich um: Es ist noch viel Platz. Ich suche mir einen Platz im Raum, an dem ich mich wohl fühle. Circa 1/3 der Menschen trägt eine Maske, die anderen freuen sich sichtlich endlich keine mehr tragen zu müssen. Doch ich lasse meine auf. Ich fühle mich dadurch ein wenig weniger sichtbar. Immerhin kann man mein Gesicht kaum erkennen. Sobald mir dieser Gedanke kommt, muss ich lachen: Normalerweise HASSE ich es Masken zu tragen, jetzt trage ich freiwillig eine. Auch noch eine FFP2-Maske. Auf einem Konzert. Auf dem ich tanzen und singen will. Ich bekomme doch sonst schon immer nach circa 10 Minuten mit Maske Schnappatmung – wie soll das hier gehen?! Was soll ich sagen – es geht. Das nehme ich jetzt mal vorweg. Wunderbar. Ohne umzukippen. Ohne Atemnot. Trotz Tanzen. Trotz Singen.
There she is: Leslie Clio
Charly ist fertig. Unter Applaus verlässt sie die Bühne. Es wird wieder hell im Saal. Warten. Umbau. Das Licht geht wieder aus. Die Bühne erstrahlt in einem warmen blauen Licht. Die Band nimmt ihren Platz ein: Schlagzeuger, Pianist, Gitarrist. Sie fangen an zu spielen. Das Publikum applaudiert. Und endlich kommt SIE auf die Bühne. Nimmt ihren Platz am Mikrofon ein. Fängt an zu singen: Leslie Clio. Mein Herz fängt an schneller zu schlagen: Ich freue mich unglaublich hier zu sein. Sie zu sehen. Ich verspüre eine tiefe innere Ruhe und Geborgenheit. Es fühlt sich vertraut an.
Throwback: Freiburg, Jazzhaus im Jahr 201x
Ich werde zurück geworfen in meine Freiburger Zeit. Zurück zu meinem ersten Konzert von Leslie Clio: 10 Euro hat es gekostet. Im Jazzhaus. Klein. Familiär. Ihr erstes Album war gerade erschienen. 10 Jahre ist es jetzt ungefähr her, doch es fühlt sich an, als sei es gestern gewesen. Die Zeit rennt.
“Abcdef*ck Off”
Sie fängt an zu singen und ich komme wieder zurück ins Hier und Jetzt. Nach Köln. In den Stadtgarten. Ich fange an zu tanzen. Wiege mich im Takt der Musik. Singe mit. Lasse mich von ihrer Art mitreißen. Ihren Emotionen. Ihrer Stärke. Man merkt ihr an, dass sie sich die letzten Jahre durchgekämpft hat und genau weiß, wo sie jetzt steht. Wer sie ist. Was sie will. Sie hat ein eigenes Label gegründet, weil keiner ihre CD so veröffentlichen wollte, wie sie es sich vorgestellt hat. Sie hat den Mut gehabt, für ihr Herzensprojekt zu kämpfen, einzustehen. Keine Kompromisse. Hat sich nicht einengen lassen von äußeren Faktoren. Hat ihre Frau gestanden. Diese Kraft wird in jedem ihrer Songs hörbar. Ihre Stärke und Energie schwappen über ins Publikum. Ich tanze alleine vor mich hin. Recke die Arme gen Himmel. Oder Decke. Singe mit. Lasse los. Bin. Mir hat das Tanzen gefehlt.
Throwback und Sehnsucht – herzlich Willkommen
Plötzlich bin ich woanders. In Hamburg. Feiern. Gute Stimmung. Laut. Mir geht es gut. Vermeintlich. Ich tanze. In Clubs. Alkohol fließt in Mengen. Die Realität wird weicher. Verdrängt. Für diesen Moment. Diese eine Nacht. Mehr Alkohol, bis ich mich nicht mehr erinnere. Loslasse. Ein starkes Vermissensgefühl und eine tiefe Sehnsucht macht sich in mir breit: Ich sehne mich zurück zu dieser Zeit. Zu den Clubs. Zum Tanzen. Bis in die Morgenstunden. Zum Trinken. Neue Bekanntschaften. Zu diesem Gefühl, alles zu vergessen. Abschalten zu können. Zu sein. Ich spüre es förmlich körperlich. Alles an und in mir schreit: Ich will dahin zurück!!!
STOPP! Anhalten, nachdenken, weiter gehen
STOPP!! „Diese Zeit in deinem Leben gehört dahin, wo sie hin gehört, in die Vergangenheit!“, sagst du später zu mir und ich weiß, du hast recht. Diese Zeit ist vorbei. Die Zeit der Abstürze. Des wahllosen Betrinkens. Des Ertrinkens sämtlicher Emotionen, Gefühle, Erinnerungen. Sie ist vorbei und das ist gut so. Auch wenn es sich oft nicht so anfühlt. Tief in mir drin weiß ich, dass es gut so ist.
“Brave new woman”
Es wird Zeit, dass etwas Neues anbricht. Eine Zeit, in der ich alleine zu ihrer Musik singe und tanze. Es mir egal ist, ob mich wer sieht oder merkwürdig anguckt. Ich jeden Song bis ins Blut spüre. Ich die Energie in mir aufsauge, wie eine ausgetrocknete Pflanze. Bewusst. Mit allen Sinnen. Ohne Vernebelung vom Alkohol. Eine Zeit, in der ich stärker werde mit jedem Song. Kraft verspüre, die ich seit Jahren nicht mehr hatte. YEEEEEEEEEEEEEESSSSSSSSSS!!!!!! I AM ALIVE! Ich fühle die Power. „I’m a brave new woman“ singt sie und ich spüre es durch und durch. „Ich glaube, der Sinn des Lebens ist es, dass wir jeden Tag unser Licht in die Welt tragen.“, sagt sie und ich denke: Ja, vielleicht hat sie recht. „Das Leben ist ein Geschenk!“, sagt sie und ich denke: Naja, dem kann ich gerade nicht zustimmen. Das sehe ich nicht so. Doch dann denke ich, dass auch das in Ordnung ist.
Sinn des Lebens?
„Der Sinn ist es, dass wir unser Licht jeden Tag in die Welt tragen.“ Dieser Satz räsoniert in mir. Kurz denke ich: Welches Licht?! Wenn doch keins da ist… Aber davon will ich mich jetzt nicht runter ziehen lassen. Ich nehme das Zitat so mit. So an. Möchte damit arbeiten. Es leben. Mich nicht beschränken lassen. Das machen, was ich wirklich will. Ein schöner Traum, ich weiß. Eine schöne Vorstellung, die utopisch ist. Doch ich bin in meinem High gefangen. Mir ist es egal, dass es eine Traumvorstellung ist, denn gerade fühle ich mich stark.
Yeeeees, ich bin GEHEILT!!!
Gesund. „Geheilt“, wie wir gerne zueinander sagen, wenn wir wieder mal so ein Hoch haben. Na klar, die Angst sitzt im Nacken, denn nach einem Hoch kommt in der Regel ein noch tieferes Tief. Aber das ist Zukunftsmusik. Jetzt ist jetzt. Und jetzt bin ich hier. Da. Im Hoch. Angespannt und euphorisch. Alles andere ist mir egal. Limitationen? Gibt es nicht. Eigene Bedürfnisse? Nachgehen! Wenn sie gerade helfen. Wenn sie mich einschränken, ignorieren. Gesund? Nein, das ist dieses Hoch auch nicht. Das weiß ich. Geheilt? Auf keinen Fall. Das ist nur unsere Hoffnung. Oder Zynismus. So genau weiß ich es nicht. „Nimm es an, so wie es ist!“, sagst du und das tue ich. Denn ich freue mich, dass ich mal wieder Lust habe, etwas zu tun. Dass ich Ideen habe. Wünsche und Träume. Dass ich Energie habe, Kraft. Power. Dass ich alles andere verdränge? Ja, das weiß ich. Dass dis nicht hilfreich ist? Ja, das weiß ich. Irgendwo tief in mir drin. Ich ignoriere es. Gucke bewusst weg. Das ist ein Problem für mein Zukunfts-Ich. Jetzt will ich mich spüren. Auch wenn ich diesem Zustand nicht traue. Nicht trauen kann. Meinen Gefühlen nicht trauen kann. Es ist egal.
Tiefe Dankbarkeit durchströmt mich
Denn ich tanze. Recke die Arme gen Himmel. Singe aus vollem Halse mit. Bin voller Kraft und Energie. Voller Mut und Zutrauen. Voller Selbstvertrauen und voller Dankbarkeit für dieses tolle Konzert. Diese inspirierende, starke Frau. Ich bewege mich im Takt und bin einfach ich. Ohne Gedanken. Ohne Ängste. Ohne Zweifel. Einfach ich. Ich im Hier und Jetzt.
Anmerkungen:
Text: April 2022.
Foto: April 2022©Kristine.