Es ist Mitte März. Ich sitze auf der Fensterbank unserer Kneipe. Die Sonne scheint mir ins Gesicht, wärmt mich. Ich könnte zufrieden sein. Frei und glücklich. Stattdessen bin ich gereizt. Gereizt und angespannt. Merke, wie die Migräne langsam, gaaaaaanz langsam von meiner Schulter über meinen Nacken hin zu meiner rechten Kopfhälfte kriecht. Seit gestern ist sie da, noch nicht zu voller Blüte erstrahlt, aber merklich. Ein Zeichen dafür, dass mir – mal wieder – alles zu viel ist. Alles zu viel geworden ist.
Alles?!
“Alles? Was ist denn alles?!” Tja, gute Frage. Seit Anfang Februar mache ich eine neue berufliche Reha. „Unterstütze Beschäftigung“ nennt sich das und es geht darum, einen Wiedereinstieg in den Beruf zu finden nach langer Auszeit aufgrund psychischer Erkrankung. Und eine lange Auszeit habe ich wohl – bald sind es 5 Jahre. Ich kann selbst nicht glauben, dass es so lange schon anhält. 5 Jahre – in der Zeit kann man einen Bachelor und Masterstudiengang vollenden. Unfassbar. Aber meine Ärzte und Therapeuten sagen, es sei eigentlich nicht so lange, für so schwierige und schwere Erkrankungen. Lange Rede kurzer Sinn: Es dauert eben. Fertig.
Neuer Versuch
Und ich versuche erneut, wieder auf die Beine zu kommen mit einer anderen beruflichen Eingliederungsmaßnahme. In dieser Maßnahme macht man vor allem viele verschiedene Praktika, um herauszufinden, welche Rahmenbedingungen sinnvoll und notwendig sind. Im Endeffekt soll es aber darum gehen, in eine sozialpflichtige Beschäftigung übernommen zu werden.
Praktikum Nummer 1 – Erfolg trotz Misserfolg
Wie gesagt: Anfang Februar hat die Maßnahme für mich begonnen. Vor 2,5 Wochen habe ich mein erstes Praktikum angefangen: 3 Stunden pro Tag im Homeoffice. Blogartikel schreiben, Instagram-Posts verfassen, neue Tools kennen lernen. Ich habe eine wunderbare Praktikumsgeberin, mit der ich mich sehr gut verstehe. Das Thema interessiert mich – es geht um New Work und systemisches Coaching. Ich kann mir die Zeit zuhause frei einteilen. Perfekt, oder nicht?
Krankschreibung
Offenbar nicht. Seit Anfang der Woche bin ich erneut krank geschrieben. Bis nächste Woche Freitag. Also 2 Wochen. Den Rest des Praktikums. Und das, obwohl es mir doch Spaß gemacht hat. Ich habe mich gerne in neue Tools eingearbeitet. Probiert und gelernt. Mich mit meiner Prakikumsgeberin unterhalten und gearbeitet.
Was ist passiert?!
Ich weiß es nicht. Es ging die letzten Wochen immer mehr bergab. Tief in den dunklen Keller hinein. Mal wieder. Dorthin, wo ich nicht mehr weiter weiß. Nicht weiß, wie ich es bewältigen soll.
“Wie du was bewältigen sollst?” Alles. Da ist es wieder, das Wort. Ein Wort, das nichts aussagt und der Wahrheit nicht entspricht. Denn natürlich schaffe ich vieles. Aufstehen, regelmäßig essen, ab und an mal laufen gehen, ab und an mal im Laden aushelfen, ab und an mal malen, ab und an mal einen kurzes Kurs russisch oder norwegisch machen. Oder eben einen Post oder Artikel verfassen. Auch das. Nur scheint das alles zusammen genommen zu viel zu sein.
Hallo Triggerthemen
Gerade Arbeit ist ein schwieriges Thema für mich. Lauter Erwartungshaltungen, Leistungsansprüche, Ängste, die auftauchen und an die Oberfläche wollen. Die mich lähmen und daran hindern, weiter zu kommen. Dazu noch private Schwierigkeiten, die in mir viele alte Gefühle und Ängste hervorrufen, vieles aufwühlen. Die politisch schwierige Lage, die für negative Schwingungen in der Welt sorgt und sich belastend auswirkt. Auf jeden. Der tägliche Kampf mit meinen Erkrankungen. All das ist viel. So anstrengend, dass mein Körper und mein Kopf sich, also mich, schützen wollen und mich in dissoziative Zustände treiben.
Irgendwo im Nirgendwo
Ich vergesse, was ich gerade getan habe bzw. was ich gerade sagen wollte. Ich weiß nicht mehr, worüber wir vor ein paar Tagen gesprochen haben. Zeit ist ein Konstrukt, dass sich mir nicht mehr erschließt: Gerade habe ich online einen Kurs abgeschlossen für zwei Wochen, schon erhalte ich die Nachricht, dass diese zwei Wochen vorbei sind. Dabei könnte ich schwören, dass ich erst gestern die Mail abgeschickt habe. Was passiert hier? Es ist beängstigend. Und mein Körper versucht sich und mir zu helfen: Dissoziation, um mich von der Welt abzuspalten. Migräne, um mich dazu zu zwingen, Pause zu machen.
“Warum ich?!”, und andere sinnfreie Fragen
Negative Gedanken als endgültige Lösung meiner Probleme. Ich verstehe das. Auf der einen Ebene. Aber auf der anderen Seite empfinde ich es als unmöglich, das zu akzeptieren. Verstehe nicht, wie ich so krank sein kann. Ich doch nicht?! Was für ein sinnloser und absolut nicht hilfreicher Gedanke. Denn natürlich kann JEDER krank sein und werden. Warum auch nicht? Warum sollte es der:die eine mehr “verdienen” als wer anderes? Keiner hat es verdient. Keiner hat verdient zu leiden. Keiner hat es verdient, dass es ihm/ ihr schlecht geht. Und obwohl mir von professionellen Menschen bescheinigt wurde, dass ich schwere Erkrankungen habe. Obwohl mir ein Schwerbehindertenausweis ausgestellt wurde. Obwohl auch mein Therapeut mir dauernd bestätigt und erklärt, dass das alles lange dauern kann und das oft so ist. Obwohl ich auf rationaler Ebene verstehe, wie es dazu gekommen ist, weshalb ich jetzt hier stehe und dass es keineswegs fair ist, es aber auch nicht um Fairness geht. Obwohl ich das alles weiß, habe ich Schwierigkeiten emotional zu verstehen, dass ich einfach krass eingeschränkt bin. Deutlich mehr eben also viele Menschen.
Du bist doch nicht schwerbehindert – du hast doch nur “Psyche”
Schwerbehindert aufgrund von psychischen Erkrankungen? Natürlich. Warum nicht?! Einschränkungen sind Einschränkungen und ich erlebe die in vielen Bereichen. Nur weil man etwas nicht sieht, heißt es nicht, dass es nicht da ist! Und dennoch verstehe ich nicht, wieso es nicht besser wird, wo ich doch alles tue, was ich kann. Verstehe nicht, wieso ich mich selbst wieder ausbremse. Verstehe nicht, was ich anders hätte tun können. (Nichts, laut meines Therapeuten – “Sie tun alles, was gerade möglich ist!”) Weiß nicht, wie die Lösung aussehen soll. Und schäme mich. Schäme mich dafür, mein Praktikum nach 2 Wochen beenden zu müssen. Schäme mich dafür, dass ich „nicht einmal das“ hinbekomme. Schäme mich dafür, meiner Praktikumsgeberin sagen zu müssen, dass ich krank geschrieben bin. Schäme mich dafür, dass mir noch weitere, neue Tabletten verschrieben wurden, um die Situation besser in den Griff zu bekommen. Schäme mich für meinen Zustand. Obwohl ich nichts dafür kann. Obwohl ich täglich kämpfe. Obwohl ich lieber stolz sein sollte. Aber das ist mir nicht möglich. Ich übe es. Naja, erst einmal übe ich radikale Akzeptanz. Und ich hoffe, dass ich es irgendwann schaffen werde…
Anmerkung:
Text: März 2022.
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