Wege raus aus dem Dunkel
Alle an einem Tisch
Alle an einem Tisch

Alle an einem Tisch

Neuankömmling

„Hey Wilma, herzlich willkommen“, sage ich. „Schön, dass du da bist, wir haben uns schon so auf dich gefreut…“,singt es in meinem Kopf weiter und ich rufe innerlich: „Ja, ist ja gut, hör auf!“ Wilma ist schlank, blass, hat langes, dunkles glattes Haar und ihre hellblauen Augen wirken verschleiert, stumpf, irgendwie traurig. Sie trägt einen deutlich zu großen, grauen Mantel und wirkt klein, zart, auf eine fast hilflose Art zerbrechlich. Zurückhaltend und unsicher. „Schön, dass du dich auch zeigen magst“, sage ich, strecke ihr meine Hand entgegen, die sie zitternd zart ergreift. „Komm’ rein. Ja, ich weiß, es ist etwas chaotisch, aber du wirst dich zurecht finden“, ermuntere ich sie. Kaum habe ich das gesagt, kommt Lizzy auf ihrem Surfskate angeschossen. „Huhuuuuuuuuuuuu“, ruft sie und ist schon an uns vorbei geflitzt. Ihre langen blonden Haare fliegen wild hinter ihr her. Erschrocken weicht Wilma einen Schritt zurück. Sie wirkt, als würde sie sich noch weiter in sich zurück ziehen. Falls das überhaupt möglich ist. Irgendwie bezweifle ich das, denn sie ist bereits jetzt fast komplett in ihrem Mantel verschwunden. Fast unsichtbar. Ihr Blick irrt wirr umher, sie zittert am Körper, wirkt gehetzt. Wie ein Tier auf der Flucht, ohne die Möglichkeit, sich zu verstecken, denke ich. Sie tut mir Leid. „Komm mit.“, sage ich. „Ich zeige dir eine ruhigere Ecke.“ Mit gesenktem Kopf schleicht sie lautlos hinter mir her, bis wir zu einer Sofaecke kommen. Dort sitzt bereits Martha – mal wieder auf Krawall gebürstet: „Was will DIE denn hier?! Die sieht ja aus, als gehöre sie in eine Gruft, Mädel, was soll diese graue Jacke? Hässlicher geht’s ja wohl kaum noch! Du gehörst nicht hier hin! Wir sind doch schon so viele – was soll das?!“ „Beruhige dich, sie hat genauso ein Recht hier zu sein, wie du. Jede:r, der sich uns zeigt, gehört dazu. Das weißt du ganz genau. Egal, wann der Mut gefunden wird, sich zu zeigen. Also sei nett zu ihr, sie ist sehr schüchtern.“ Martha zieht einen Flunsch, sagt aber nichts mehr, sondern setzt die Kopfhörer auf und lümmelt sich auf die Couch. “Fuck you, fuck you very very muuuuch…”, singt sie lauthals mit. Ich rolle nur die Augen und gucke Wilma verzeihend an. Wilma’s Blick ist starr, die Augen weit aufgerissen, der Mund zusammen gepresst, die Lippen weiß. „Mach dir keine Gedanken über Martha. Sie ist immer sehr aufbrausend. Sie meint es nicht so. Du kannst dich hinsetzen, wo du willst.“ Ich lächele sie aufmunternd an und tatsächlich, Wilma befreit sich aus ihrer Starre und schleicht unauffällig und sich so klein wie möglich machend zu dem großen Ohrensessel in der Ecke. Der, der direkt am Fenster steht. Mit Blick nach draußen. Zu den dicken, uralten knorrigen Bäumen, dem grünen Gras und den Vögeln, die Fangen zu spielen scheinen. Sie nimmt Platz und verschwindet praktisch in ihm. Rollt sich zusammen und blickt mit leeren Augen aus dem Fenster. „Na gut,“ denke ich, „sie muss sich eben noch eingewöhnen.“

„Das ist doch nicht dein Ernst!“, höre ich plötzlich eine schneidende Stimme hinter mir. Erschrocken drehe ich mich um und sehe SIE in ihrer ganzen Größe, dem schicken roten Lacklederoutfit, den langen dunkelblonden Haaren, die zu einem strengen Dutt zusammen gebunden sind und der Peitsche in der Hand. SIE. Sie ist Kyra. Sie steht da, ihre funkelnden eisblauen Augen auf mich gerichtet. Reflexartig gehe ich einen Schritt zurück. „Was…“, stammele ich, „…Was..Was…Was habe ich denn verkehrt gemacht?“ Irgendwie bringe ich diesen Satz raus und weiß im selben Moment: Das war ein Fehler. Ihr Gesicht läuft knall rot an, sie holt tief Luft und brüllt: „Du weißt es nicht? Denk doch mal nach! Wie kann es sein, dass du SOOO dumm bist? Du verstehst wirklich gar nichts? Kein Wunder, dass dich keiner mag. Dir keiner was zutraut. Nicht mal die leichtesten Dinge bekommst du hin! Wieso hast du DIE DA“ – mit dem Finger zeigt sie auf den dunklen Ohrensessel, in dem Wilma sitzt – „hier rein gelassen?!“ „Ist es dieda, die da am Eingang steht, oder dieda, die dir den Kopf verdreht, ist es dieda, die mit dem dicken Pulli an Mann, nein….“, ertönt es direkt aus dem Hintergrund. Na super, denke ich. Nicht schon wieder. Doch zu schockiert bin ich noch von Kyras plötzlichem Auftritt. Vor Angst verschlägt es mir beinahe die Sprache. Zitternd wiederhole ich: „Weil sie genau so ein Recht hat hier zu sein, wie du. Und das weißt du!“ Selbstverständlich spielt das für Kyra keine Rolle. Ihrer Ansicht nach gehört nur sie hier hin und sonst keine:r. Das Thema hatten wir schon des Öfteren und ich weiß, es wird eine Weile dauern, bis sich die Situation wieder beruhigt. Also auf in den Kampf! Nach der nun folgenden hitzigen Diskussion, fühle ich mich total ausgelaugt und müde. Am liebsten würde ich mich eine Runde ausruhen, doch Kyra lässt mich nicht in Ruhe. Na gut, denke ich, dann rufe ich mal alle an den Tisch – machen wir die alltägliche Gesprächsrunde doch mal ein wenig früher. Vielleicht wird es dann ein wenig ruhiger.

Tägliche Tischrunde

Gesagt getan, nehme ich an dem großen Kastanienbaumtisch, der mitten im Raum steht, Platz und schlage den Gong “Kloooooong”– das Zeichen, dass alle zu mir kommen sollen. “Wieso gerade zu dir? Wer bist du eigentlich?”, fragst du dich jetzt? Ich werde es dir erklären, bis die anderen alle hier sind, dauert es ohnehin noch. Ich bin Lu und ich koordiniere das Chaos hier, das oft dem inneren eines Kindergartens gleicht, in dem alle Kinder den ganzen Vormittag nur Schokolade gegessen haben. Unser “Kindergarten”, ist ein Trupp unterschiedlichen Alters und komplett unterschiedlicher Charaktere. Wir alle haben unsere positiven und unsere weniger hilfreichen Seiten, sodass es oft zum Streit kommt. Dann bin ich da, um es zu regeln. Wo wir uns befinden? Im Kopf von IHR natürlich! Wir alle gehören zu ihr. Gestalten ihr Leben, entscheiden, wer gerade das Befinden steuern und angeben darf. Jeden Tag auf’s neue entscheiden wir es hier am Tisch, in der Runde, die ich leite. Ich habe diese Gesprächsrunde eingerichtet in der Hoffnung, dass wir uns erstens einigen können und sich zweitens sich auch jede:r an die Absprachen hält. Naja, man wird noch Träume haben dürfen… Oft ist eine Einigung unmöglich, sodass jede:r mal dran kommt. Wobei “dran kommen” wohl zu optimistisch ausgedrückt ist. Es ist eher so, dass sie sich gegenseitig das Steuer aus den Händen reißen. Mir ist das bewusst, und dennoch: Ich gebe mein bestes, jede:n in seine/ihre Schranken zu weisen.

Mittlerweile sind alle da – es ist ein lautes Gewirr an Stimmen zu hören. Ich schlage den Gong erneut. “Klooooong”. „Ruhe!“, rufe ich. Heute funktioniert es erstaunlich gut: Das Stimmengewirr verstummt. „Schön, dass ihr alle da seid! Zuerst machen wir eine kurze Vorstellungsrunde, denn Wilma ist heute neu dabei. Also „neu“ ist natürlich nicht ganz richtig, sie war ja die ganze Zeit irgendwo in IHR, oft hat sie ihren Mantel auch komplett über uns gelegt und uns beinahe erdrückt, das wisst ihr aber ja. Mit “neu hier” meine ich, dass sie jetzt bereit ist, sich zu uns zu gesellen und an unseren Treffen teilzunehmen. Ich freue mich, dass sie jetzt auch hier ist. Herzlich willkommen, Wilma! Magst du uns vielleicht kurz etwas über dich erzählen?”

Wilma

Verunsichert kauert Wilma auf ihrem Stuhl, den Blick starr auf einen undefinierbaren Punkt vor ihr gerichtet. Stockend und kaum hörbar fängt sie an: „Ich…. Ich heiße Wilma… Ich …. Also … Mhm… Ich weiß nicht was ich sagen soll…”, stottert sie und ihre Stimme nimmt einen tränenbehangenen zittrigen Ton an. „Das ist ok!“, sage ich. „Erzähl uns einfach, was dich ausmacht, was du magst.“ „Ok… Mhm… Also… Ich mag… Ich mag schwarz.“ „Schwarz schwarz schwarz sind alle meine Kleider, schwarz schwarz schwarz ist alles was ich hab…“, ertönt es direkt aus dem Off. Alles klar, danke auch für diesen Input, denke ich und rolle mit den Augen. Die anderen sind erstaunlich still.Wilma blickt sich kurz irritiert um, bevor sie weiter erzählt: „Meine Klamotten sind immer dunkel. … Mhm…. Und… Ich bin oft traurig… Und müde…. Kaputt… Oft möchte ich weinen. Oder nicht mehr leben. Alles im Kopf dreht sich. Ist kaum festzuhalten. Gedanken rasen. Es ist alles so schwierig. Ich habe einen riesigen Mantel, mit dem ich das Leben von IHR in Graustufen färben kann.” Ihre Stimme wird ein wenig fester, lauter, schneller. Fast gehetzt. “Außerdem ist er so schwer, dass sie sich fühlt, als würde sie von einer riesigen Last nach unten gedrückt werden. Sie kann sich dann kaum noch bewegen, kaum etwas tun….Und die dunkeln Gedanken schicke ich hier auch… Am liebsten Gedankenschleifen… Mhm… Ja… Also… Das war’s…“

„Danke Wilma, das war sehr hilfreich. Dann lasst uns doch jetzt der Reihe nach jeder etwas von uns erzählen. Lizzy, willst du weiter machen?“ „Warum Lizzy?!?“, rufen Martha und Kyra gemeinsam. „Das ist gemein!“ „Ihr kommt alle dran.“, will ich die beiden beruhigen. „Wir gehen einfach nur im Uhrzeigersinn herum.“ „Das ist ja mal wieder typisch. Immer die anderen zu erst. Nie ich…“, grummeln sie noch eine Weile vor sich hin, aber ich ignoriere es geflissentlich. „Also“, sage ich, „Lizzy…?“

Lizzy

„Hallo Wilma, ich bin Lizzy.“, fängt sie an. „Ich bin anfang 30 und ich liebe es, neue Sachen auszuprobieren. Mich kreativ auszutoben. Balancebord ausprobieren, Surfskate fahren – die perfekte Mischung aus Sport und Balance. Ich singe gerne laut, schreie auch mal. Lache gerne über alles mögliche. Bin sozial und gerne unter Menschen. Liebe die Nähe anderer. Habe unfassbar gerne intensiven Sex, gehe gerne feiern, fühle mich wohl, so wie ich bin – laut, quirlig, kreativ und chaotisch. Ich liebe Adrenalin und bin immer auf der Suche nach dem neuen Kick. Nach dem Adrenalin-Schub, durch den ich mich sooooo lebendig fühle!!“, plappert sie rasend schnell vor sich hin. Dann lacht sie auf. „Vielleicht kann ich dir ein wenig Energie von mir abgeben.“

Agnus

„Danke Lizzy!“, sage ich. „Weiter geht es mit dir, Agnus“. „Hallo. Agnus mein Name. Mitte vierzig. Rede nicht gern. Lieber bin ich bei Didi. Meinem Vogeldrachen. Aber er darf hier ja nicht rein… “, funkelt er mich sichtlich angespannt an. Wilma starrt weiter auf den unsichtbaren Punkt in der Ferne, erschaudert leicht. Der Mann, den eine knisternde, explosive Aura zu umgeben scheint, löst offenbar Unbehagen in ihr aus. „Kurz: Ich liebe Anspannung. Liebe es, mich mit Didi im Nacken- und Schulterbereich von IHR festzukrallen, sodass ein Gefühl von Anspannung und Unwohlsein durch ihren Körper schießt. Ein Gefühl, von jemandem „fremdbesitzt“ zu werden. So, dass SIE raus aus ihrem Körper will, es kaum mehr aushält. Die Verzweiflung, mit der sie sich selbst verlassen will – das macht mir am meisten Spaß!“ Er lacht gehässig auf und blickt Wilma herausfordernd an. Doch die bekommt das gar nicht mit. Sie starrt weiter mit leerem Blick ins Nichts.

Martha

„So, jetzt bin ich aber dran!“, mischt Martha sich ein. „Du warst doch fertig, Agnus. Oder? Also, ich bin Martha.“, fährt sie fort, ohne eine Antwort abzuwarten. „Ich bin noch nicht so alt wie die anderen – das sieht man ja wohl…“, sagt sie und fährt sich stolz mit ihren Händen durch die dunklen, seidenglatten Haare, bevor sie sie zu einem Zopf zusammen bindet. “Und ehrlich gesagt geht mir hier so ziemlich alles auf den Geist. Was sollen diese blöden Besprechungen jeden Tag? Kann ich nicht einfach mal in Ruhe gelassen werden und nur das tun, was ICH will?! Ständig diese Regeln, dieses Gefühl eingeengt zu sein. Ständig will mir hier irgendwer sagen, was ich zu tun habe. Was richtig ist. Was falsch ist. KEINER HÖRT ZU!! Das macht mich sooooo wütend! LASST MICH IN RUHE!“, ihre Stimme wird immer lauter, schriller. Sie schreit jetzt und springt auf. „Ist gut Martha,“ sage ich. „Setz dich bitte wieder. Das war sehr eindrucksvoll. Danke. Das reicht für heute. Wir gehen direkt weiter zum/r nächsten.“

Kyra

„Hallo Wilma. Also, eines muss ich zuerst mal klar stellen: ICH bin hier diejenige, die das Sagen hat.“, fängt Kyra selbstbewusst und laut an. “Kyr…”, setze ich an, doch sie ignoriert mich und fährt noch eine Spur überheblicher fort: „ICH sorge dafür, dass alles richtig verläuft. ICH kümmere mich darum, dass sich keiner hängen lässt. Dass SIE immer ihr bestes gibt. Dass immer das beste herauskommt. Perfektion ist immerhin das einzig wichtige auf dieser Welt. Perfektion und Disziplin. Ich sorge dafür, dass SIE sich nicht ausruht, denn Faulheit wird nicht toleriert. Dass IHR klar ist, dass sie sich anstrengen muss, denn von nichts kommt nichts. ICH erinnere sie daran, dass sie nichts wert ist, wenn sie sich nicht anstrengt. Dass SIE sich mehr bemühen muss. Wenn es mich nicht gäbe – wo wäre SIE dann bloß?! Nicht auszumalen. Aber zum Glück bin ich diszipliniert genug für uns beide. Diszipliniert. Zielstrebig. Ausdauernd. Ehrgeizig. Wiederhole das eben gesagte oft. Denn das ist sehr wichtig, sonst würde SIE es wohl nicht begreifen! Einer muss ja durchgreifen und das bin ICH!“ Stolz reckt sie das Kinn und lässt die Peitsche durch die Luft sausen und blickt herausfordernd alle in der Runde an. Keiner sagt eine Ton. „Vielen Dank.“, sage ich. Ich habe keine Lust sie zu korrigieren – das würde nur zu einem anhaltenden Streit führen. Und dafür sind wir nicht hier.

Emilia

Ich blicke mich in der Runde um. Wer kommt als nächstes dran? Ach ja, Emilia. Sie hätte ich fast übersehen: Klein, in sich zusammengesunken, die Arme um ihre angezogenen Knie gelegt, den Kopf auf den Knien abgelegt, sitzt sie zusammengekauert auf dem viel zu großen Stuhl. „Emilia,“ sage ich zärtlich, „du bist dran.“ Langsam hebt sie den Kopf und guckt mich verunsichert mit ihren großen, tränennassen Augen an. „Ich,“ flüstert sie, „Ich bin Emilia. Ich bin 7 Jahre alt. Ich.. Ich bin so traurig. Und… Und… Ich habe Angst. So schreckliche Angst. Angst, dass ihr geht. Immer gehen alle. Immer lassen mich alle alleine… Wieso bleibt keiner bei mir? Wieso…?”, ihre Worte gehen in tiefen Schluchzer unter. Ihre eine Hand auf’s Herz gelegt, mit der anderen den Bauch umschlungen wimmert sie vor sich hin. “Aua…Mach, dass es weg geht. Aufhört… Warum ist keiner da?! Warum hilft mir keiner?!”, schnieft sie weiter und die Tränen laufen feucht und heiß über ihr kleines Gesicht. Es bricht mir das Herz wie sie auf ihrem Stuhl kauert und vor Tränen und Schmerz zerfließt. Es ist das erste mal, dass Wilma aufschaut. Sie blickt Emilia mit ihren leeren Augen an und es ist, als könnte ich einen Funken Verständnis in ihnen lesen. Einen Funken Mitgefühl. Nur für einen kurzen Augenblick, bevor sie wieder den Tisch vor sich betrachtet. Interessant, denke ich. Mit Emilia wird sie sich bestimmt gut verstehen. Emilia ist mittlerweile so in ihrem Tränenmeer versunken, dass sie nicht weiterreden will. Ich lasse sie in Ruhe.

Ava

Jetzt blicke ich mich um und sehe Ava, die mittlerweile beruhigend ihren Arm um Emilia gelegt hat. Ava – die mit ihrer strahlenden Schönheit den Raum erleuchtet. Sie leuchtet von Außen und von Ínnen und lässt alles in einem warmen, goldenen Schimmer erstrahlen. Mit ruhigen, weisen Augen guckt sie mich an: „Dann mache ich mal weiter.“, sagt sie lächelnd. „Ich bin Ava.“, richtet sie ruhig ihre warme Stimme an Wilma, während ihr liebevoller Blick auf ihr ruht. „Ich bin die Älteste hier, wie du unschwer erkennen kannst.“, lächelt sie. „Ich habe meinen eigenen Raum weiter oben. Du kannst mich dort jederzeit besuchen, wenn du das möchtest. Ich sorge für Ruhe bei IHR. Für Selbstvertrauen. Für ihren Selbstwert. Ich bin die innere Intuition. Die innere Stimme der Weisheit. Wenn du Hilfe oder Trost brauchst, kannst du das bei mir bekommen – besuche mich einfach.“ „If you’re down, and troubled and you need a helping hand, and nothing, nothing is going right, no, no, no….“ tönt es singend von irgendwo her. Ava lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Ich freue mich immer über Besuch.“ Ihr Blick ruht weiterhin wärmend auf Wilma, die das zu spüren scheint. Denn plötzlich hebt sie ihren Kopf leicht an und sieht Ava direkt in die Augen. Kaum merklich nickt sie ihr zu und Ava lächelt zurück; immer noch Emilia sicher in den Armen haltend.

ES

Na gut, denke ich, das lief dich schon mal ganz gut. Nur leider muss ich Wilma wohl auch über ES informieren. Am liebsten würde ich das einfach unter den Tisch fallen lassen. Ignorieren. Nur: Durch das Ignorieren geht ES wohl auch nicht weg… Ich atme einmal tief durch und sage dann: „So, Wilma. Jetzt hast du schon mal ein paar von hier kennen gelernt. Doch… Das waren aber noch nicht alle. Vor allem eine fehlt noch: Ich nenne sie: Die dunkle Macht! Wer oder was ist sie? Oder ES? Das ist bislang noch nicht so wirklich klar. Wenn ich es genau nehme, ist es absolut unklar. Sicher ist nur, dass ES selbst körperlos ist und immer nur die Gestalt von einem von uns annimmt. ES kommt als dunkles Etwas mit dunklem Umhang und fließt in einen von uns hinein. Dort angekommen, übernimmt ES die Handlungen und sämtliche Charaktereigenschaften, verstärkt diese und wandelt sie oft in schädliche Verhaltensweisen um.“ Ich sehe den verständnislosen Blick von Wilma „Ok, vielleicht ist das jetzt etwas schwierig zu verstehen. Es ist ja auch irgendwie total abstrakt. Ich gebe dir mal ein konkretes Beispiel: Nehmen wir mal Martha. Vom Grundsatz her hat sie eine hilfreiche, positive Wut in sich, die dafür sorgt, dass sie sich nicht alles gefallen lässt. Sich nicht Dingen fügt, die schädlich für sie sind. Dass sie sich durchsetzt. Grenzen setzt. Verändert, was verändert werden kann und sollte. Wenn sie nun allerdings von der dunklen Macht eingenommen wird, dann führt es dazu, dass sie die Wut gegen sich selbst richtet, also gegen SIE. Es kommt zu schlimmen Selbstverletzungen. Oder Alkoholkonsum. Oder Schreianfällen, bei denen SIE meist Gegenstände zerstört oder zumindest zerstören will. Ein anderes Beispiel können wir bei Lizzy beobachten: Sie liebt Sex. Doch wenn sie von der dunklen Macht infiltriert wird, dann führt das zu schädlichem Verhalten, sprich, wahllosem Sex, um sich nicht mehr zu spüren. Harter Sex, nur um für einen Augenblick Ruhe zu haben. Egal, ob sie die Person vorher kannte oder nicht, solange er verfügbar ist, reicht ihr das. Das führt aber quasi jedes Mal zu starkem Selbstekel. Selbsthass und Selbstscham, weil SIE nicht mehr rechtzeitig Stopp sagen kann zu Dingen, die SIE nicht will. Da ist die dunkle Macht stärker. SIE wird quasi fremd gesteuert. Verstehst du?“ Wilma nickt langsam. „Ja.“, sagt sie. „Das hatte ich glaube ich auch schon… Wenn ich von ihr besessen bin, dann werden die Suizidgedanken stärker und real. Erscheinen mir als einzig logische Lösung, um diesem anstrengenden Leben zu entkommen.“ Ich nicke traurig. Sie hat es verstanden. Nein, sie hat es sogar schon erlebt. Gerne hätte ich es ihr erspart, aber so funktioniert das Leben eben nicht. Man kann sich nicht aussuchen, was passieren soll, was man haben will, was man vermeiden möchte. Manchmal, hat man einfach keine Kontrolle, denke ich traurig.

Die Atmosphäre ist mittlerweile doch eher angespannt, die Stimmung getrübt. Über ES redet hier keine:r gerne. Auch ich muss einmal tief durchatmen. Schaue mich im Raum um. Haben wir jetzt alle? Nein, hinten in der Ecke, nicht mit am Tisch, sondern etwas abseits, sehe ich noch zwei Gestalten sitzen: Ich weiß sofort, um wen es sich handelt. Und auch, wenn sie so weit weg sitzen und fast nie aktiv am Geschehen teilnehmen – sie sollen sich dennoch vorstellen. Denn ausgezogen sind sie ja noch nicht. Und jede:r, der sich hier aufhält, muss sich vorstellen, wenn sich jemand Neues traut hier aufzutauchen. Sich zu zeigen.

Patrick

„Patrick“, rufe ich. „Du bist dran.“ Er blickt kurz auf, mustert die Runde, rollt theatralisch die Augen und murmelt gelangweilt: „Na gut… Ich bin Patrick. Ich bin nur selten hier, aber eigentlich fühle ich mich recht wohl. Ich komme gerne, wenn Agnus schon da ist – nutze seine Anspannung. Ich sorge dafür, dass das Herz zu rasen beginnt, sich Nebel im Kopf ausbreitet, Schwindel kommt. Ich sorge dafür, dass SIE eine Panikattacke bekommt. Nur leider kennt sie mich sehr gut mittlerweile und weiß, wie sich mich beruhigen kann, wenn ich mal wieder explodiere. Nur ab und an schaffe ich es noch, sie aus der Reserve zu holen.“ Er schüttelt den Kopf und senkt ihn. Ich weiß, mehr wird er jetzt nicht sagen. Das ist aber auch in Ordnung. Er redet einfach nicht gerne.

Olivia

„Olivia“, sage ich. „Nun bist du noch dran!“ Olivia sitzt auf dem Platz neben Patrick und scheint quasi kaum zu existieren. Wie ein kleiner Zweig im Wind. Dünn und fahrig. Wirkt beinahe durchsichtig. Aber jeder der sie kennt, weiß, wie kratzbürstig sie sein kann. „Kein Wunder“, denke ich. „Sie isst ja auch quasi nichts…“ „Olivia!“ „Ja, ist ja schon gut“, meckert sie zurück. „Hallo, ich bin Olivia. Ich bin vierzehn. Manchmal auch älter. Kommt darauf an. Ist aber ja auch egal. Ich sorge dafür, dass SIE nicht zu dick wird. Denn SIE isst viel zu oft viel zu viel Süßzeug. Irgendwer muss das doch unterbinden?! Und SIE bewegt sich viel zu selten. Viel zu wenig. Ich gebe mir redlich Mühe – ich meine, SIE muss doch sehen, wie dick sie ist?! Aber nein, im Augenblick ignoriert SIE das viel zu oft. Oder isst trotzdem. Egal was ich sage. Das ist ja soooo nervig! Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen. Eigentlich….“ „Ja, ist gut“, unterbreche ich sie. „Es reicht für heute. Hier ist jetzt nicht der richtige Ort zum Aufregen und Beschweren.“ „Ja, ja… Ach lass mich doch in Ruhe! Du wolltest doch, dass ich was sage!“, zickt Olivia zurück und dreht sich wieder weg vom Tisch.

Ich atme tief durch. Oh man, das ist immer eine Tortur. Aber nun haben wir es geschafft. Besprechen, wer dran kommen darf? Nein, das tun wir heute nicht mehr. Ich bin zu müde. Heute losen wir – ein effektives Verfahren, keiner kann sich beschweren. Was natürlich Martha und Kyra nicht davon abhält, es trotzdem zu tun. Egal. Immer noch besser, als es jetzt auszudiskutieren.

Losverfahren

Ich hole den Behälter mit den Losen hervor und schlage noch einmal den Gong: „So, heute losen wir! Es reicht an Streitigkeiten und ich glaube, jede:r braucht jetzt mal ein wenig Ruhe. Wer will, darf ziehen und mitmachen. Ihr wisst, wie es geht!“ Doch da fällt mir ein, dass Wilma ja neu ist. Ich wende mich ihr zu und sage: „In diesem Behälter befinden sich viele Lose. Einige sind leer. Auf anderen steht „gewonnen“. Es gibt deutlich mehr Lose, als wir hier Mitglieder sind. Es kann also vorkommen, dass jeder ein Blankolos zieht – dann kommt keiner dran. Es kann aber auch vorkommen, dass mehrere gewinnen, dann dürfen die sich zusammen überlegen, was passieren soll und was sie machen möchten. Ganz einfach also. Du musst nicht mitmachen, darfst es aber, ok?“ Wilma nickt nur still.

Wie immer drängen sich Martha und Kyra nach vorne. Aus irgendeinem Grund glauben sie, dass es hilfreich ist, als erste oder zweite zu ziehen. Na bitte. Den anderen ist es egal, also machen wir es so. Um den Gruppenfrieden zumindest ein klein wenig weiter zu wahren. Kyra zieht: „NICHT SCHON WIEDER!!!“, ruft sie. Sie hat ein Blankolos gezogen. „Das kann doch wohl nicht wahr sein?!?“, schimpft sie vor sich hin und trollt sich. Martha zieht auch ein Blankolos. Die anderen kommen dran, Wilma macht auch mit. Wilma und Agnus haben beide gewonnen. Ein gutes Team, denke ich. Anspannung und Erschöpfung – das passt doch eigentlich ganz gut. Ich bin gespannt, wie IHR Tag noch wird. Ein wenig tut SIE mir Leid, aber so sind eben die Spielregeln. Ich bin einfach nur froh, dass jetzt erst einmal alles erledigt ist und ich mich in Ruhe zurück ziehen kann. Entspannen. Bis es Morgen wieder von vorne los geht. Jetzt überlasse ich Agnus und Wilma das Feld.

Anmerkung:
Text: Januar 2022.
Foto: Januar 2022©Kristine.

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