Wege raus aus dem Dunkel
Entscheidungshilfe – Reisen mit psychischer Erkrankung?
Entscheidungshilfe – Reisen mit psychischer Erkrankung?

Entscheidungshilfe – Reisen mit psychischer Erkrankung?

Psychisch krank und trotzdem reisen?!

Nein, nicht trotzdem, sondern gerade wegen der Erkrankungen. Denn: Ich liebe eigentlich Reisen. Zumindest habe ich es früher geliebt, das weiß ich noch. Es ist etwas befreiendes. Freiheit, Leichtigkeit, Kontrolle abgeben, alles auf sich zukommen lassen, neue Erlebnisse, Landschaften und Menschen. Eventuell auch fremdes Essen, eine fremde Sprache und Kultur. Einfach den Alltag hinter sich lassen, den Stress vergessen, einfach nur entspannen…

Ja, so war es einmal für mich. Was so schön klingt, ist aber für mich momentan eine riesige Herausforderung. „Einfach mal wegfahren“, „einfach mal die Freiheit genießen“. Allein bei dem Gedanken fängt mein Magen an zu rumoren, mein Herz schlägt schneller und in meinem Kopf breitet sich Nebel aus. Genau so ging es mir letztes Jahr, als wir – mein Partner und ich – die Idee hatten, nach Skandinavien zu fahren. Mit unserem VW-Bus Lilly. Einer – manchmal zickigen – Dame von ca. 36 Jahren. Für ein paar Wochen. „Einfach mal losfahren, gucken was passiert.“

Einfach mal machen

Tja, so „einfach mal“ war es für mich nicht. Seit ein paar Jahren ist mein Alltag von Angst, Antriebslosigkeit und Kontrolle geprägt, insbesondere aufgrund der Magersucht. Für mich bedeutet Reisen: Kontrolle aufgeben, Sicherheit aufgeben. Denn zu Hause kenne ich mich aus. Weiß, in welchen Supermarkt ich gehen kann, welche Produkte ich „ungefährlich“ essen kann. Ich habe sämtliche Lebensmittel, die ich eventuell gebrauchen könnte, zu Hause. Auf Reisen im Ausland hat man weniger Platz. Man muss in fremden Supermärkten einkaufen gehen, fremde Lebensmittel kaufen oder auch mal auf „gut Glück“ was mitnehmen, da man leider nicht ganz genau versteht, was auf der Zutatenliste steht. Erschwerend kommt hinzu, dass ich mich überwiegend vegan ernähre. Und schon war ich an der Grenze zur Überforderung: Gibt es in Skandinavien vegane Aufstriche? Kann ich mich dort überhaupt vegan ernähren? Was, wenn nicht? Und was, wenn ich total viel zunehme? Nicht kontrollieren kann, wie viel und was ich esse? HALT! Genau das möchte ich ja nicht mehr. Nicht mehr kontrollieren, sondern frei essen. Also: Nimm deinen Mut zusammen und fahre trotzdem!!! Oder gerade wegen der Magersucht, um sie zu überwinden. Um zu sehen, dass die Freiheit des Essens viel mehr Genuss bringt, als die Kontrolle durch die Essstörung.

Aber dann ist da ja noch die Depression: Antriebslosigkeit, soziale Ängste, Sinnlosigkeit: „Was soll ich mir eine Landschaft angucken, die vielleicht schön sein mag, aber die ich nur einmal sehe? Was bringt mir das? Und was ist, wenn ich den Antrieb nicht finde und meinen Partner dadurch total blockiere, weil ich nicht mit wandern gehen möchte? Was ist, wenn ich mich in einem Tief befinde und nichts genießen kann? Was ist, wenn die Depressionssymptome schlimmer werden? Fragen über Fragen. Ängste über Ängste.

Hilfestellung

Doch: Tief in mir drin war ein kleiner Hoffungsfunke der sagte: „Dir hat Reisen früher immer so viel Spaß gemacht und gut getan. Traue dich und probiere es aus.“

Also gut, dachte ich, ich versuche es. Aber da ich nicht weiß, ob ich es möchte und kaum Zugriff zu meinen Gefühlen hatte, musste eine andere Strategie her: Planung und Entscheidungshilfen. Für diesen Zweck habe ich mir folgende Fragen gestellt und beantwortet:

  1. Will ich die Reise wirklich machen, oder gebe ich nur nach, weil ein anderer sie machen möchte und ich denke, ich „sollte mich nicht so anstellen“?
    Schwierig zu beantworten, aber nach einiger Zeit war mir klar, dass ICH gerne reisen möchte.
  2. Ist es sinnvoll zu zweit zu reisen oder wäre alleine besser?
    Für mich war klar, dass ich nicht alleine reisen möchte, denn zu zweit kann man die Verantwortung und Entscheidungen teilen.
  3. Welches Land kommt für mich in Frage?
    Für mich war klar, dass nur ein Land in Betracht kommt, in dem ich mich auf Englisch verständigen kann. Einfach, weil ich Englisch kann. Außerdem sollte es sich um eine Kultur und Essenskultur handeln, die unserer ähnlich ist, da eine zu große Abweichung mich überfordern würde.
  4. Was ist mir wichtig?
    Aufgrund meiner Essstörung war es mir wichtig, genug Lebensmittel, auch frische, unterbringen zu können und gut kochen zu können, damit ich mein Gewicht halten kann und nicht wieder abnehme. Denn etwas Essen, was mir nicht schmeckt, funktioniert überhaupt nicht. Wir haben uns deshalb zusätzlich zu unserem Kühlschrank im Bus noch eine Kühlbox angeschafft.
  5. Was kann ich vorbereiten?
    Ich habe z.B. viele vegane Aufstriche gekauft, da mir das wichtig war und ich – richtigerweise – davon ausgegangen bin, dass es in Skandinavien kaum welche gibt. Außerdem haben wir den ersten Campingplatz reserviert, damit wir nach stundenlanger Fahrt nicht noch etwas suchen müssen.
  6. Welche Vorbereitungen kann ich im Hinblick auf die Erkrankung treffen? Habe ich z.B. ausreichend Tabletten? Habe ich einen Notfallplan?
    Ich habe mit meinem Therapeuten vorher gesprochen und mit ihm Kriterien festgelegt, an denen ich merke, dass es mir schlechter geht. Für diesen Fall haben wir vereinbart, dass ein telefonisches Gespräch möglich ist. Außerdem habe ich mit meiner Psychiaterin gesprochen, um für 3 Monate mit Antidepressiva versorgt zu sein. Denn es war klar, dass es nicht mehr als 3 Monate werden, da dann ein Klinikaufenthalt geplant war.
  7. Welche Skills (= hilfreiche Fertigkeiten) habe ich und welche sind sinnvoll auf der Reise anwendbar?
    Zum Glück wusste ich, dass für mich Ablenken durch Hörbuchhören bei einem mittleren Anspannungsgrad hilfreich ist. Also habe ich vorher viele Hörbücher bei der Bibliothek ausgeliehen. Bei einem geringeren Anspannungsgrad kann Yoga helfen, also habe ich meine Yogamatte eingepackt. Außerdem sind das Lösen von Sudoku-Rätseln und das Aufschreiben von Gedanken für mich hilfreich, sodass ich ausreichend Rätsel und ein Tagebuch mitgenommen habe.
  8. Woran merke ich, dass es mir schlechter geht? Was mache ich dann?
    Für mich war es wichtig festzulegen, wann ich nach Hause fahre. Für mich war klar, dass ein Indikator mein Essverhalten ist: Wenn es sich verschlechtert bzw. nicht verbessert (es war kurz vor der Reise sehr schlecht), dann komme ich zurück. Wenn meine Selbstverletzungsgedanken und die Ausübung sich häuft. Wenn zu viele Selbstmordgedanken auftreten. In einem solchen Fall hätte ich mich absprachegemäß mit meinem Therapeuten in Verbindung gesetzt und wäre dann evtl. nach Hause gefahren.
  9. Habe ich meine Sorgen vorher mit meinem Partner besprochen bzw. ihm mitgeteilt, was mir auf der Reise besonders wichtig ist?
    Auch das erachte ich für sinnvoll, damit auch der Partner weiß, worauf er sich einlässt. Mein Partner ist zum Glück sehr verständnisvoll und hatte die Idee mit der Kühlbox. Auch war es kein Problem, dass ich nicht wusste, ob ich nur 2 Wochen oder vielleicht sogar 2 Monate durchhalte.
  10. Vermiete ich meine Wohnung unter, wenn ich länger wegfahre?
    Natürlich ist es kostspieliger, wenn man die Wohnung nicht untervermietet für die Zeit, aber mir war es wichtig, dass ich jeder Zeit die Möglichkeit habe, wieder nach Hause zu fahren. Das hätte ich nicht gehabt, wenn wir die Wohnung untervermietet hätten. Dann hätte ich mich auf der Reise eingesperrt und gefangen gefühlt und hätte sie vermutlich viel weniger genießen können.

Die Entscheidung

Nachdem ich also einige Wochen Zeit verbracht habe, mich diesen Fragen zu widmen, mich mit meinem Therapeuten zu besprechen und vorzubereiten, sind mein Partner und ich los gefahren. Und es war ein voller Erfolg! Fast 3 Monate Skandinavien. Eine unvergessliche, oft wunderschöne, teils aber auch sehr schwierige Zeit, die mich stabilisiert hat, insbesondere im Hinblick auf die Magersucht. Außerdem hat die Reise mir geholfen, ein wenig Abstand zu bekommen von der Hektik in der Stadt. Sie hat mir gezeigt, was ich trotz Erkrankung schaffen kann, dass noch sehr viel von meinem gesunden Ich vorhanden ist. Sie hat mir Grenzen aufgezeigt und ich habe Wege gelernt, mit einigen Situationen besser umzugehen. Insgesamt war es viel Arbeit, kostete viel Anstrengung und bescherte uns viele schöne Erlebnisse. Ich möchte die Zeit nicht missen. Aber dazu in einem neuen Beitrag mehr.

Ich hoffe, euch machen diese Hilfestellungen und dieser Bericht Mut, es vielleicht auch einmal zu probieren. Mit ausreichend Planung und einem gewissen Grad an Sicherheit und Kontrolle. Denn mir hat die Reise ein bisschen Licht ins Dunkel gebracht, auch wenn es nicht ewig angehalten hat – ich kehre in Gedanken sehr gerne nach Skandinavien zurück.

Habt Mut, packt eure Sachen und ab geht’s. „Einfach“ mal machen!

Eure Kristine

Foto: Skandinavien, 2020©Holger.

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