Wege raus aus dem Dunkel
Die Angst, verlassen zu werden
Die Angst, verlassen zu werden

Die Angst, verlassen zu werden

Verlustangst – oder wie ich passender finde „Verlassensangst“ – ist ein großer, sehr belastender Teil meines Lebens. Diese Angst macht es nicht nur für mich schwierig, sondern auch für mein Umfeld, insbesondere meinen Partner.

Doch was bedeutet das genau? Hat nicht jeder Angst, etwas zu verlieren? Doch, sicherlich. In einem gewissen Rahmen ist eine solche Sorge menschlich und vielleicht auch manchmal begründet und sinnvoll.

Die Angst die ich meine, ist jedoch eine, die sich fast jeden Tag in Situationen äußert, in denen die meisten gar nicht auf die Idee kämen, Angst zu empfinden. „Normale Alltagssituationen“, bei denen normalerweise Alarmglocken nicht läuten.

Diese Angst kann sich in einem „verzweifelten Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden, z.B. durch klammerndes Verhalten, Suizidandrohungen“ äußern. (Kriterium der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung nach DSM V)

Für mich bedeutet diese Angst vor allem, dass ich immer vom worst-case Szenario ausgehe.
Das liegt daran, dass sich in meinem Kopf sehr hartnäckig folgende zwei Glaubenssätze halten:

  1. Wenn eine Person sauer auf mich ist, heißt das, sie mag mich nicht, was bedeutet, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben will und sich abwendet.
  2. Wenn ich meine Meinung äußere und sie nicht der meines Gegenübers entspricht, mag diese Person mich nicht mehr und wird sich abwenden.

5 Situationsbeispiele

Konkret äußert sich diese Angst vor allem in den folgenden 5 Situationen:

  1. Schlechte Laune des Gegenübers
    Bei mir sieht es nur leider so aus, dass sich bei der kleinsten vermeintlich negativen Emotion meines Gegenübers ein Sturm an negativen Gedanken in meinem Kopf breit machen.
    Wenn zum Beispiel meine Schwester – ein Morgenmuffel, trinkt morgens am Liebsten still ihren Tee – zusätzlich noch schlecht geschlafen hat und deswegen ein bisschen Gereiztheit oder Genervtheit ausstrahlt, spielt mein Kopf verrückt:

    Ich hätte nicht mit aufstehen dürfen. Bestimmt ist sie genervt, dass ich hier mit im Esszimmer sitze. Soll ich lieber gehen? Wahrscheinlich nervt es sie auch, dass ich sie besucht habe, sie traut sich nur nichts zu sagen. Soll ich lieber abreisen? Habe ich etwas Falsches gesagt, weshalb sie jetzt sauer auf mich ist? Was habe ich die letzten paar Minuten gemacht/ gesagt? Kann irgendwas sie verletzt/ genervt haben? Etc.“

    Die Realität ist dabei so einfach: Jeder hat mal schlechte Laune und ist morgens mal müde. Die Gereiztheit hat dann absolut nichts mit mir zu tun, was ich rational irgendwo auch weiß, aber eine Angst breitet sich dennoch aus und ich muss mich anstrengen, dagegen anzukämpfen.

    In meiner Partnerschaft ist es noch schwieriger, denn – wie gesagt – hat jeder mal schlechte Laune oder einen schlechten Tag. Ich bin unheimlich sensibel, wenn es um Gefühlsschwankungen und Emotionen geht, das habe ich so in meiner Kindheit lernen müssen. Das bedeutet, dass ich auch die noch so kleinen Anzeichen einer Verstimmung mitbekomme. Und sofort kommt die Angst hoch: „Ich habe irgendetwas falsch gemacht. Jetzt hat er gemerkt, wie ich wirklich bin und wird mich verlassen. Es hat ja auch lange genug gedauert. Ich sollte dankbar sein, dass er es überhaupt solange mit mir ausgehalten hat. Bestimmt habe ich ihn verärgert. Ahhh, ich weiß gar nicht genau, was ich verkehrt gemacht habe, aber offensichtlich ist da ja was, sonst hätte er keine schlechte Laune. Jetzt geht er auf jeden Fall. …“ Es dreht sich in meinem Kopf und ich bin mir 100% sicher, dass er mich verlässt.

    Sobald ich diese „Falle“, diese Gedanken bemerke, versuche ich, mich zu beruhigen und mir andere mögliche – und wahrscheinlichere – Szenarien auszumalen: In der Corona-Pandemie kann man sich nicht gut mit Menschen treffen und er ist deswegen frustriert. Er hat nicht gut geschlafen. Er ist einfach mit dem falschen Fuß aufgestanden. Wie oft habe ich schlechte Laune und es hat nichts mit meinem Partner zu tun? Warum sollte er jedes Mal gerade meinetwegen schlecht drauf sein?
  1. Kritik
    Ebenso stellt mich Kritik von anderen Menschen vor eine große Herausforderung: Wenn mich jemand kritisiert, dann denke ich sofort: „Sie/er mag mich nicht mehr, findet mich sch…, will nichts mehr mit mir zu tun haben. Wird den Kontakt ab sofort abbrechen. Alles andere macht ja keinen Sinn. Wird sich abwenden.“
  1. Verspätete Antworten auf Nachrichten
    Wenn mein Partner z.B. für ein paar Tage auf einem Projekt arbeiten ist und ich ihn entweder nicht erreichen kann oder er sich längere Zeit nicht meldet, dringt die Angst in mich ein und verhindert ein rationales Denken. Stattdessen werde ich bombardiert mit Gedanken wie: „Bestimmt denkt er nicht an mich. Er hat mit Sicherheit wen viel besseres kennen gelernt. Er ist froh, dass er mich gerade nicht um sich hat. Jetzt merkt er, wie viel besser es ihm ohne mich geht und wird mich verlassen, sobald er zurück ist.“ In solchen Momenten die Oberhand wieder zu gewinnen, ist oft sehr anstrengend und schwierig.
  1. Treffen mit Menschen
    Wenn ich mit jemandem verabredet bin, habe ich jedes Mal vorher die Angst, dass derjenige nicht kommen wird. Dass er/sie gemerkt hat, sie/er will sich eigentlich nicht mit mir treffen, traut sich nur nicht abzusagen, hat nur aus Mitleid zugesagt, will aber eigentlich nichts mit mir zu tun haben. Wenn sich diese Person dann auch noch verspätet, werden die Angst und die Stimmen im Kopf noch lauter: „Natürlich kommt er/sie nicht – wieso auch? Er/ sie mag dich nicht und wird sich abwenden, will mit dir nichts mehr zu tun haben.“
  1. Meinungsäußerung
    Und eine letzte Situation, die ich auch mit unter den Begriff Verlustangst fasse, ist: Ich traue mich oft nicht, meine Meinung ehrlich zu äußern. Vor allem in größeren Gruppen habe ich dann immer sofort Angst, dass ich als „dumm enttarnt“ werde und sich alle abwenden werden und nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Aber auch in Zweierbeziehungen tue ich mich oft damit schwer, da ich immer Angst habe, dass ich die „falsche“ Meinung haben könnte und somit der andere erfahren würde, wie ich eigentlich bin und mich dann verlassen würde.

Natürlich bin ich mir darüber im klaren, dass all diese genannten Punkte nicht ausschließlich auf einer Verlustangst beruhen, sondern auch viel mit Vertrauen, Selbstwert, Selbstbewusstsein usw zu tun haben. Aber im Endeffekt läuft jede dieser Situationen darauf hinaus, dass ich davon ausgehe, dass mich wer verlassen wird oder nichts mehr mit mir zu tun haben möchte. Deswegen habe ich alle hier vorgestellt.

Körperliche Auswirkungen

Ok, ich habe also „Angst“. Aber was bedeutet das konkret? Was passiert in all den Fällen? Mein Herz fängt an zu rasen, manchmal zittere ich, mein Kopf fühlt sich voll und leer zugleich an, macht es unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich fange an zu schwitzen – meist kalter Schweiß. Mir wird schwindelig. Gedanken rasen, alle sind darauf ausgerichtet mir zu erzählen, dass natürlich die andere Person mich verlassen wird – wie habe ich mir je etwas anderes einbilden können? Manchmal fühlt sich der Kopf so an, wie wenn man zu viel getrunken hat – so sehr man sich auch bemüht rational zu denken, es funktioniert nicht mehr. Alles im Kopf scheint sich zu drehen. Manchmal bekomme ich Bauchschmerzen oder mir wird übel.

Gerade wenn es sich wirklich um eine Verlustsituation handelt, sind die Emotionen so stark, dass ich das Gefühl habe, neben mir zu stehen und kaum Kontrolle zu haben. In solch einer Situation, in der ich nicht mehr wusste, wie ich meine Gefühle aushalten und überleben soll, habe ich sogar schon einmal mit Suizid gedroht. Das habe ich danach sofort zurück genommen und mich noch schlechter gefühlt, denn wer bitte macht denn so etwas?!?! Aber mittlerweile weiß ich, auch das gehört zur emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung.

Diese Angst und die körperlichen Reaktionen sind ziemlich belastend, weil kaum ein Tag vergeht, an dem ich diese Angst nicht verspüre. Natürlich nicht immer extrem, manchmal ist sie auch nur leise da. Und obwohl ich rational weiß, dass es dafür keinen Grund gibt, so ist sie stets da. Begleitet mich, schränkt mich ein.

Vermeidungsstrategie und Reaktionen

Als Konsequenz aus dieser Angst bzw. vor allem aus der Angst vor der Angst, habe ich über die Jahre hinweg Vermeidungsstrategien erlernt. Diese Strategien waren mit Sicherheit einmal in meinem Leben notwendig und hilfreich, sind es jedoch jetzt, mit 33 Jahren, nicht mehr.

Meine Hauptstrategie lautet: Vermeide Konflikte, sorge für Harmonie!

Daraus folgt, dass ich Konflikten – soweit es eben geht – aus dem Weg gehe. Wenn ein Konflikt auszubrechen droht, stimme ich lieber schnell zu, halte meine Meinung zurück, versuche, mich in den Hintergrund zu drängen, versuche unsichtbar zu werden. Oft schon prophylaktisch, um einen potentiellen Konflikt zu vermeiden.

Ich bin dann der Ansicht, dass es „ja nicht so wichtig sei und ich ruhig ein Kompromiss schließen könne, ruhig die Meinung annehmen könne etc.“. Dass ich mich dabei hinten anstelle, ist mir egal – wichtiger ist für mich, die Harmonie zu wahren. Doch das ist ein Trugschluss, denn wem bitte hilft es, wenn ich immer Ja und Amen zu allem sage? Nie meine Meinung äußere, aus Angst, verlassen zu werden? Unsicher bin, ob meine Meinung „richtig“ ist – wobei hier ja schon die Frage ist, was genau denn eigentlich „richtig“ ist. Natürlich fällt es mir auf, wenn ich abwiegele oder zustimme, obwohl ich eigentlich anderer Meinung bin.

Bislang fand ich es nicht so schlimm, denn meistens ist es ja auch irgendwie egal. Doch je länger ich mich mit der Psyche und mir beschäftigte, desto mehr erkenne ich, dass es mir nur „egal“ ist, weil ich mir selbst wenig wert bin. Ich erachte mich selbst als so unwichtig, dass ich denke dankbar dafür sein zu müssen, wenn mich jemand mag, wenn sich überhaupt jemand mit mir abgibt. Und das bedeutet natürlich auch, dass der andere nicht merken darf, wie furchtbar ich eigentlich bin. Würde ich eine andere Meinung vertreten, würde das aber vielleicht auffallen. Also lieber schweigen und zustimmen.

Problem: Vertrauen

Ich weiß mittlerweile, dass das nicht richtig und nicht hilfreich ist. Ich muss lernen, für mich einzustehen. Mich selbst wertzuschätzen. Meine Meinung zu äußern. Doch das Problem ist dabei unter anderem, dass mir das Vertrauen in mich selbst fehlt. Ich traue mir wenig bis gar nichts zu und habe einen sehr schlechten Selbstwert und ein sehr schlechtes Selbstbewusstsein. Ich fühle mich oft fremd im Körper und weiß überhaupt nicht, wer ich bin. Das sind alles auch Kriterien der Borderline-Störung und all dies basiert – meiner Meinung nach – auf einem fehlenden Ur-Vertrauen. Natürlich ist es notwendig, das irgendwann aufzubauen, auch wenn ich nicht weiß, wie ich das tun soll. Doch das ist ein anderes Kapitel. Hier geht es um die Verlustangst.

Was kann ich konkret tun?

Ich hätte gerne einen allgemeingültigen Supertrick, mit dem ich diese ganze Qual von jetzt auf gleich beenden kann. Aber leider sind wir ja in der Realität, nicht in einer Traumwelt. Wobei, in meiner Traumwelt mit all den Albträumen möchte ich auch nicht stecken, aber auch das ist wieder eine andere Geschichte.

Ok, kein Supertrick, also bleibt nur ein schrittweises Vorankommen.

  1. Ein erster Schritt ist es, zu bemerken, dass ich in mein Muster verfallen, in meinen Gedanken gefangen bin.
  2. In einem zweiten Schritt gucke ich mir dann andere Deutungsmöglichkeiten an.
  3. Ein dritter Schritt wäre es dann, die eigene Meinung auch mal zu äußern und festzustellen, dass es vielleicht gar nicht so schlimm ist.
    Natürlich halte ich nicht immer mit meiner Meinung hinter dem Berg, aber oft genug. Da bin ich noch nicht so viel weiter gekommen. Auch nicht damit, mich zu äußern, wenn mich etwas stört. Das traue ich mich auch in der Regel nicht, da greift die Angst wieder – „natürlich verlässt er/sie mich, wenn ich jetzt sage, dass mich ein Verhalten stört.“ Dieser Schritt steht mir noch bevor.

Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass Verlustängste sehr reale und ernstzunehmende Ängste sind, die jedoch heute – oftmals – nicht mehr wahnsinnig hilfreich sind. Vielmehr erschweren sie meinen Alltag und meine Beziehungen. Denn für Partner ist es natürlich nicht nachzuvollziehen, wie ich immer in einem worst-case Szenario landen kann und schnell panisch werde, obwohl es sich nur um eine ganz normale Alltagssituation handelt.

Aber ich bemerke es mittlerweile recht oft und regelmäßig sehr früh und versuche dann, mich davon abzugrenzen und einen anderen Umgang damit zu finden. Ich stehe noch am Anfang, aber irgendwo muss man ja anfangen.

Schritt für Schritt, kleine Schritte nach vorne, aber immerhin nach vorne.

Anmerkungen:
Text: Juni 2021.
Foto: Sonnenblume, leicht vertrocknet, Juni 2021©Kristine.

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