Wege raus aus dem Dunkel
Meine Depression, Ängste, Magersucht und ich auf Reisen
Meine Depression, Ängste, Magersucht und ich auf Reisen

Meine Depression, Ängste, Magersucht und ich auf Reisen

Nach den Vorbereitungen ging es los – ab ins Ungewisse. Die ersten paar Hürden lagen direkt am ersten Tag vor uns: Dank Corona gab es überall verschiedene Einreiseregeln oder -verbote. Ein gefundenes Fressen für meine Ängste, dir mir gleich erzählten, es würde sowieso nicht funktionieren, und die mir nächtelang Schlafprobleme bescherten. Ihnen zum Trotz klappte alles hervorragend und nach einer 12stündigen Fahrt mit unserer Lilly (unserem VW-Bus) sind wir in Norwegen angekommen – auf dem bereits reservierten Campingplatz, das war mir sehr wichtig für die erste Nacht und nach einer so anstrengenden und langen Fahrt. Von da aus ging es dann los: Seen, Flüsse, Berge, Täler, Fjorde, Schifffahrten, Nordlichter, Nordkap, Schweden, Finnland, Wanderungen, Eis, Schnee, Gletscher, Sonne, baden, lachen, singen, weinen, Lagerfeuer, Yoga, schreiben, Hörbuch hören, spielen, reden, kochen, planen und so vieles mehr.

Das klingt ja alles gut, aber was ist mit den Ängsten?

Viele Ängste haben sich sehr schnell in Luft aufgelöst, denn die meisten rühren von der Angst vor Kontrollverlust her. Und wie sich herausstellte, gibt es auf einer Reise vielleicht sogar mehr Kontrolle, als in meinem momentanen Alltag: Auch wenn man jeden Tag etwas neues sieht, so läuft jeder Tag doch in etwa gleich ab, sodass ich wusste, was kommt: Aufstehen, Frühstück, überlegen, was man macht und wo man hinfährt, Mittagessen, weiterfahren oder wandern, Schlafplatz suchen, evtl. Dumping Station und Einkaufsladen suchen und später Abendbrot kochen. Na klar, oft hatte ich die Sorge, dass wir keinen Platz für die Nacht finden oder keinen Supermarkt oder keine Dumping Station. Das mag wie eine Kleinigkeit klingen, in mir drin kam es mir aber wie das größte Katastrophenscenario vor. Mittlerweile weiß ich, dass diese krassen Gefühle von der Borderline-Persönlichkeitsstörung herrühren, damals wusste ich das nicht und habe mich oft dafür geschämt. Aber mit der Routine kam die Sicherheit: Irgendwo finden wir immer was! Und damit kam auch langsam die innere Ruhe. Was sich nicht so einfach abschütteln ließ und lässt, ist die Verlustangst: Ich muss immer noch lernen meine Meinung zu sagen und meine Bedürfnisse ehrlich zu äußern. Oft passe ich mich lieber an, gebe der Verlustangst also nach, die mir genau dazu rät. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, auch das irgendwann in den Griff zu bekommen.

Und was ist mit der Magersucht?

Auf der Reise hatte ich im Prinzip eine deutlich bessere Struktur als zu Hause, was mir enorm geholfen hat mit der Magersucht. Vor der Reise ist sie schlechter geworden und die Essstörungsstimmen in mir drin immer lauter. Ich hatte das Gefühl, wieder komplett die Kontrolle an die Magersucht zu verlieren. Auf der Reise, hatte sie kaum eine Chance: Die geregelten Essenszeiten haben sich einfach intuitiv ergeben. Natürlich muss man regelmäßig essen und da wir quasi immer ähnlich aufgestanden sind, waren die Zeiten immer recht ähnlich. Dadurch konnte ich mich darauf einstellen und auch einlassen. Außerdem waren wir oft wandern, sodass ich meinem Körper aufgrund des erhöhten Verbrauchs auch gut mehr gönnen konnte. Seit der Reise kann ich wieder recht unproblematisch essen, in der Regel auch in einer ausreichenden Menge, ekel mich nur noch selten und kann Lebensmittel wieder genießen – auch die früher „Verbotenen“ (= solche, die ich mir selbst nicht erlaubt habe, weil sie vermeintlich „zu ungesund“, „zu schlecht“, „zu viele Kalorien“ etc sind/ hatten). Ein voller Erfolg also.

Ok, aber die Depression wird man doch so einfach nicht los?

Nein, die Depression war und ist mein ständiger Begleiter. Sie war sehr oft da, hat mich oft belastet und dazu geführt, dass ich mich schwer, kaputt und ohne Antrieb gefühlt habe. Am Anfang hatte ich deswegen ein unfassbar schlechtes Gewissen und Schuldgefühle – müsste ich nicht alles genießen, wenn ich schon das Privileg habe, so lange reisen zu können? Mit der Zeit aber konnte ich die Situation besser annehmen. Wenn wir an einem meiner schlechten Tag wandern waren, ich die Schönheit nicht sehen konnte, sondern alles nur grau war, dann habe ich das gemacht, was ich eben konnte: Mitwandern. Einen Schritt vor den anderen setzen und weiter gehen. Jeden Schritt zählen und mich nur darauf konzentrieren: 1 Schritt. 1 Schritt. 1 Schritt. Nächster Schritt. … Außerdem dem Impuls, mich in den Fluss zu stürzen oder einfach sitzen zu bleiben, widerstehen. Wenn es möglich war, habe ich Fotos von der – objektiv wunderschönen – Landschaft gemacht, um sie mir bei besserer Stimmung noch einmal angucken zu können. Vor allem habe ich aber viel mit mir selbst geredet: „Es ist ok, wenn du die Schönheit gerade nicht sehen kannst. Das ist ein Depressionssymptom. Mache, was du kannst und gehe weiter – immer einen Schritt vor den anderen setzen.“ Dadurch konnte ich es irgendwann ein wenig besser akzeptieren.
Wenn der Tag zu schlecht war, bin ich nicht mitgewandert, denn: Keine Bergbesteigung bei akuten Selbsttötungsgedanken! Die kommen ohnehin oft automatisch oben auf dem Berg, da muss man sie nicht noch mit hoch nehmen – dann ist die Gefahr einfach zu groß. Das gleiche gilt für Brücken und große Flüsse: Halte so viel Abstand zu ihnen, wie es dir möglich ist und setze deine Skills ein, um dich aus der Hochspannung zu befreien.

Auf der anderen Seite hat mir die Reise aber auch die Möglichkeit gegeben, positive Gefühle wieder deutlicher zu spüren und zuzulassen: Als wir zum ersten Mal die Nordlichter gesehen haben, war ich so aufgeregt und glücklich, wie ein kleines Kind und konnte es gar nicht fassen, was es für tolle Naturschauspiele gibt. Das habe ich auch immer aufgeschrieben, um mir vor Augen zu halten, dass ich eben nicht nur aus der Depression bestehe, sondern auch andere Seiten habe.

Was war der schönste Moment?

Schöne Momente gab es sehr viele: Nordlichter, ans Nordkap wandern, in der Natur am See campen,etc. Aber der Moment, in dem ich mich am leichtesten und befreitesten gefühlt habe, war der Zeitpunkt, zu dem ich meine Haare abrasiert habe: Seit Jahren schon haben mich meine Haare gestört: Sie sind zottelig, verknoten sich dauernd, wenn man duscht, sind sie nass, wenn man sie nicht wäscht, fettig etc. Ein jahrelanger Kampf – damit sollte Schluss sein. Also habe ich mir am Nordkap den Rasierer von meinem Partner genommen und alles abrasiert. Und siehe da: Ich habe mich seit Jahren nicht so leicht und befreit und glücklich gefühlt. Endlich bin ich mehr ich selbst – war das Gefühl, dass sich einsetzte und anhält. Nicht einen Tag habe ich es bereut, die Haare abzuschneiden und dadurch mein Leben deutlich zu verbessern und zu erleichtern. Dadurch habe ich mir auch viele weitere schöne Momente bescheren können: Morgens einfach mal eine Runde in den kalten See springen, ohne die Sorge, was ich dann mit den nassen Haaren mache – denn das hat mich vorher davon abgehalten.

Zusammenfassung des auf der Reise Gelernten:

  1. Ich fühle mich in unserer Lilly (unserem VW-Bus) gemeinsam mit meinem Partner total wohl und sicher – eine Grundvoraussetzung dafür, dass es mir gut gehen kann.
  2. Auch wenn es so eng war, habe ich es geschafft, mir einen eigenen Raum zu schaffen, indem ich mich in ein Buch vertieft oder mit noise-cancelling Kopfhörern ein Hörbuch gehört habe. So konnte ich mich regelmäßig zurück ziehen und „Zeit für mich“ haben.
  3. Außerdem ist es mir dadurch – zwar selten, aber immerhin ab und an – gelungen, mich abzugrenzen und Stimmungstiefs von ihm nicht als persönlichen Angriff zu sehen und nicht direkt vollkommen in meinen Verlustängsten zu versinken.
  4. Ich habe aufgrund der täglichen gleichbleibenden Struktur meine Magersuchtsproblematik sehr gut in den Griff bekommen.
  5. Ich habe eine Akzeptanz dafür entwickelt, dass mich Depressionssymptome dann plagen, wenn sie es wollen, nicht dann, wenn ich sie als passend empfinde. Ich kann aber trotzdem weiter handeln!
  6. Ich habe gemerkt, dass ich die Ruhe und Abgeschiedenheit liebe und wäre sehr gerne noch länger dort geblieben.
  7. Mir ist bewusst geworden, dass die Vorbereitung enorm wichtig war und die Reise wohl weitaus weniger gut verlaufen wäre, ohne sie und ohne die Sicherheit, die mir die Vorbereitung gegeben hat. Auch bei jeder einzelnen Wanderung war die Vorbereitung für mich wichtig: Warme Klamotten, Essen, Klärung der Frage, ob wir zwischendurch abbrechen können, wenn ich nicht mehr kann.
  8. Am Ende konnte ich immer besser auf meine Bedürfnisse hören und nach ihnen handeln: Ist die Wanderung heute in der Länge sinnvoll oder sollte sie lieber kürzer sein? Will ich wirklich Yoga machen oder mache ich es aus dem Bewegungsdrang heraus? Etc.
  9. Es gibt Dinge, dir mir wirklich Spaß machen: Vor allem morgens früh direkt nach dem Aufwachen in den kalten See zu springen, an dem wir campen. Einmal komplett untertauchen und zurück ins Warme, eine Tasse Tee trinken und wieder warm werden. Dabei fühle ich mich endlich mal lebendig, frei, leicht, verspüre ein Zufriedenheits- und Glücksgefühl und eine gewisse Euphorie.
  10. Sehr wichtig sind Ruhepausen, auch wenn es mir noch so schwer fällt: Man muss nicht jeden Tag reisen, man muss nicht „alles“ (Was bitte ist schon „alles“?!) gesehen und gemacht haben. Wichtiger ist es, sich wohl zu fühlen und seine Grenzen zu achten.
  11. Die Verlustangst sitzt sehr tief und ist sehr stark – ich kann ihr aber ab und zu mit rationalen Gedanken und einer Neubetrachtung der Situation begegnen.
  12. Die Selbstverletzungs- und Selbsttötungsgedanken kommen auch auf einer Reise: Ich kann ihnen mit Skills begegnen, insbesondere in dem ich mich beim Wandern auf jeden einzelnen Schritt konzentriere oder indem ich im Kopf in 7er Schritten von 1000 rückwärts zähle.
  13. Trotz meiner Erkrankungen war die Reise länger möglich, als gedacht, und vieles lief besser, als erwartet. Ich bin dankbar für jeden Moment, den ich und wir auf der Reise erleben durften.

Anmerkungen:
Text: Februar 2021.
Foto: Skandinavien, Nordkap, Sommer 2020©H.

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