Wer bin ich? Diese Frage stelle ich mir fast jeden Tag.
Die harten Fakten
Klar, ich könnte einfach sagen: Ich heiße Kristine, bin gebürtige Hamburgerin, wohne in Köln, bin Volljuristin, 168cm groß, wiege ca. 55 kg und bin 33 Jahre alt. Das ist faktisch alles richtig, trifft alles zu. Nur: Ich fühle es oft nicht. Es fühlt sich verkehrt an, wenn ich das zu mir sage. Fremd. Als gehören diese Daten zu einem ganz anderen Menschen, aber nicht zu mir.
Spieglein Spieglein an der Wand – wer ist diese Person?!
Genau so fühlt es sich an, wenn ich in den Spiegel gucke – wer ist diese Person, die mich daraus anblickt? Ich kann sie nicht erkennen. Weiß nicht, wer das ist, muss mir ins Gedächtnis rufen, dass ich das bin. Ich. Kristine. 33 Jahre. Wohnhaft in Köln. Gebürtige Hamburgerin.
Wo bin ich?
Ich erkenne mich sogar manchmal auf Fotos nicht wieder. Bin ich verrückt? Nein. Aber vor allem die letzten vier Jahre verschwimmen so sehr in meiner Wahrnehmung, dass ich manchmal das Gefühl habe, sie haben nicht stattgefunden. Alles verschwimmt in einem Nebel aus Krankheit, schlechten Tagen, Schlaf, Verwirrung im Kopf, Nebel. Tagen, die sich ähneln. Klinikaufenthalten, Therapie. Kampf, Kampf und…. Kampf. Verzweiflung. Frust. Trauer. Hoffnung. Rückfall. Tiefpunkte. Kurze Momente des Glücks. Es fühlt sich an, wie ein Traum. Als sei die Zeit stehen geblieben. Ich bin stehen geblieben. Irgendwo. Nur nicht im Hier und Jetzt. Wo genau ich stehen geblieben bin, weiß ich nicht. Manchmal bei meinem Ich um und bei 30 , oft noch viel früher. Situationen von vor 10 Jahren überwältigen mich immer noch, als seien sie gestern geschehen. Die Emotionen kann ich deutlich spüren. Obwohl ich keine 23 mehr bin. Das weiß ich rational, mein emotionales Ich scheint das oft nicht so genau zu wissen. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich aufgrund der Therapie so viel mit der Vergangenheit beschäftige. Am laufenden Band wird irgendetwas aufgewühlt, kommt hoch, bleibt da, will nicht weg. Loslassen? Ja, das wäre super, aber wie macht man das? Ich weiß es nicht. Es fühlt sich an, als würde sich einfach immer mehr ansammeln, mein Gehirn vernebeln und verkleben und mir keine Chance geben, durchzuatmen und mich zu befreien. Ich fühle mich, als träte ich auf der Stelle während die Welt sich in einer rasenden Geschwindigkeit weiterdreht. Nur komme ich nicht mit. Ich strample, doch bin mittem im Ozean gefangen. Ich renne, doch kann den Zug des Lebens nicht erreichen. Ich springe, doch lande nicht.
Realitätscheck
Und dann denke ich wieder: Nein, so ganz stimmt das doch nicht. Du bist mehr als nur ein Name. Es gibt Dinge, die du gerne machst: Du lachst gerne, interessierst dich für Veganismus und Nachhaltigkeit, du malst und schreibst, führst deine Website, fotografierst gern, hast eine Kneipe mit eröffnet und bist dort tätig, du hast ein Ehrenamt inne, du backst gerne. Alles Dinge, die ich vor vier Jahren nicht gemacht habe. Naja, bis auf das Backen. Und die Fotografie. Das ist immer schon Teil meines Lebens gewesen. Ich weiß mittlerweile besser, was meine Werte sind und dass ich keinen Job machen möchte, der im Widerspruch zu ihnen steht. Vor allem möchte ich nicht mehr jeden Tag kämpfen. Denn gefühlt habe ich das mein ganzes Leben lang getan. Eher überlebt, als gelebt. Mit Ausnahmen natürlich. Ich hatte auch sehr freie, schöne Zeiten. Nur irgendwie waren die in der Minderzahl.
Hallo Zweifel
Doch obwohl mir das alles bewusst ist, fühle ich mich so fremd in und mit mir selbst wie noch nie. Zweifle an meiner Wahrnehmung, an meinen Gedanken, an meinen Handlungen, an meinen Gefühlen. Weiß nicht, was „normal“ ist und was nicht. Weiß nicht, was bei mir krankheitsbedingt ist und was nicht. Weiß nicht wohin, wer ich sein will, was ich machen will, wer ich bin. Schwimme mitten im Meer, paddele vor mich hin, gehe ab und zu unter, kämpfe mich wieder hoch, aber sehe kein Ufer. Keinen Halt.
Realitätsverlust und Realität
Dann habe ich das Gefühl, als sei nichts um mich real. Als sei es nur ein Schauspiel, ein Film und ich sei irgendwie da drin gefangen, ohne zu wissen, wie ich mich befreien kann. Wie ich so teilnehmen kann, dass ich mich dabei spüre und nicht wie jemand in einem fremden Körper fühle. Es fühlt sich an wie ein Traum.
Und zack – plötzlich ist doch wieder alles sehr real. Ich knicke vor Überforderung ein. Bin plötzlich nicht mehr 33 Jahre alt, sondern 8 oder 10. Bin hilflos und überfordert und komme mit den einfachsten Situationen nicht mehr zurecht. Kann meine Gefühle nicht verstehen, nicht kontrollieren, nicht mit ihnen umgehen. Ich habe kein Selbstbewusstsein, fühle mich wertlos und bin trotzig. Was soll der ganze Mist? Warum tue ich das? Das bringt doch alles nichts, es wird eh nicht besser…. Ich will abhauen, mich verkriechen, klein machen, verstecken. Die ganzen Anforderungen und Erwartungen erdrücken mich – wie soll ich ihnen jemals gerecht werden? Das kann ich nicht, nicht so lange ich 8 Jahre alt bin. Also muss ich wieder wachsen.
Wofür und für wen kämpfe ich?
Ich will frei sein. Mich leicht fühlen. Also bin ich plötzlich Anfang 20. Oder Mitte 20. Auf jeden Fall im Ausland. Frei und glücklich. Zufrieden, mutig und leicht. Dort bleibe ich dann kurz, denn es ist angenehm. Angenehmer als die Realität. Angenehmer als mit 8 Jahren. Angenehmer als alles andere. Aber dann fällt es mir wieder ein: Ich bin nicht 20. Ich bin 33. Das ist die Realität. Ich muss hier wieder ankommen. Verantwortung für mich übernehmen. Verstehen, dass es NICHT meine Schuld ist, dass ich erkrankt bin, aber sehr wohl meine Verantwortung, gesund zu werden. Denn das kann keiner für mich übernehmen. Diesen Kampf kann nur ich führen und auch nur ich gewinnen. Es ist glaube ich mein erster eigener Kampf. Nur für mich. Nicht für andere. Deshalb fällt es mir auch so schwer. Für andere zu kämpfen fällt mir leicht. Aber für mich selbst? Das ist ungewohnt, denn ich weiß einfach nicht wofür ich kämpfe. Klar, für mich. Aber wenn ich doch nicht weiß wer ich bin und wohin? Wofür genau kämpfe ich dann?
Durch die Klinik weiß ich: Ich kämpfe für mein gesundes Ich. Dafür, dass ich mein krankes Ich in seine Schranken weisen kann und Leichtigkeit und Freiheit verspüren kann. Ein Leben OHNE ständigen Kampf führen kann. Zwar fällt es mir schwer dem zu glauben, da ich es mir kaum vorstellen kann, aber das ist egal, sagen die Menschen in der Klinik. Es ist irrelevant, ob ich die Sätze, die ich mir vorsage glaube. Ob ich glaube, dass ich stark bin. Dass ich es verdient habe gesund zu sein. Dass ich ein wertvoller Mensch bin. Dass ich gut genug bin, genau so wie ich bin. Dass ich liebenswert bin. Dass ich es wert bin zu Leben. Auch ohne Leistung. Einfach nur, weil es mich gibt. Dass ich stolz auf mich sein kann, weil ich schon so weit gekommen bin. Es ist irrelevant, dass mein Kopf direkt mit Gegenargumenten kommt, denn das sei die kranke Seite. Die kranke Seite will nicht, dass ich gesund werde. Sie wehrt sich mit aller Kraft. Sie will mich immer wieder auf ihre Seite ziehen. Die gewohnte, die bekannte Seite. Die, die mir Sicherheit verleiht. Dagegen anzukämpfen kostet viel Kraft, Energie, Mut und Durchhaltevermögen. Aber mit viel Übung werde es leichter den Sätzen zu glauben.
Jeden Tag kann ich neu entscheiden, welchen Weg ich gehen möchte
Ob ich daran glaube? Es fällt mir schwer. Aber ich versuche es. Denn ich weiß: Ich habe die Wahl. Jeden Tag auf ein neues kann ich mich entscheiden. Kann ich mich entscheiden zu kämpfen und einen neuen Weg zu gehen, oder den alten beizubehalten. Den gewohnten. Den sicheren. Aber das möchte ich im Augenblick nicht. Also springe ich. Jeden Tag erneut. Springe ins Nichts. In die Dunkelheit. In die Hoffnung.
Und vielleicht finde ich auch so zu mir. Zu der Person, die ich sein möchte. Die ich sein kann, ohne mich zu verstellen. Die ich bin. Irgendwo tief in mir drin.
Anmerkungen:
Text: Juni 2021.
Foto: Juni2021©Kristine.