Wege raus aus dem Dunkel
Melodie des Windes
Melodie des Windes

Melodie des Windes

Die Hände zum Himmel gereckt, die geschlossenen Augen gen Himmel gerichtet, steht sie tief ein- und ausatmend am Rande der Klippe. Das Salz des wild schäumenden Meeres unter ihr riecht sie nicht nur deutlich, sondern kann es auf ihren Lippen schmecken. Um sie herum ist pures Leben: Die tosenden Wellen, die an den zerklüfteten Felsen zerbrechen. Der Wind, der eine Melodie auf ihnen spielt und die Möwen, deren Geschrei ab und an das Rauschen und Singen durchbricht. Und mitten drin sie selbst. Steht einfach da und ist eins mit der Natur. Spürt nicht mehr, wo sie aufhört und der Wind anfängt. Geht auf in der nach Algen und Salz schmeckenden Luft. Wiegt sich im Takt der Musik. Sie kann nicht glauben, dass sie es tatsächlich gewagt hat. Gewagt und geschafft hat. Sie. Die Herzrasen bekommt, sobald sie irgendwo anrufen soll. Deren Hände schwitzig werden, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es sich vorgestellt hat. Sie, die immer fünf Mal überprüft, ob der Herd auch wirklich ausgeschaltet, die Fenster auch wirklich fest verschlossen sind. Die selbst mit Einkaufslisten im Supermarkt nicht weiß, was sie kaufen soll. Wieso gibt es für ein Produkt auch so viele Marken?! Sie, die sich nicht erinnern kann, wann sie sich neue Klamotten gekauft hat, da sie einfach nicht weiß, ob die helle oder die ein wenig dunklere Jeans besser wäre. Das rote oder das blaue T-Shirt. Der weiße oder graue Pullover. Außerdem hat sie doch noch genug im Schrank, oder?

Doch nun steht sie hier. Alleine. An der Klippe. Das Gesicht gen Himmel gereckt. Die Hände in der Luft. Sie stößt einen lauten Schrei aus. Die Möwe neben ihr fliegt hoch und lacht empört. Sie lacht mit. Einfach so. Erst leise. Dann immer lauter, bis es aus ihr herausbricht. Aus ihrem Inneren. Aus ihrem Herzen. Sie lacht und lacht. Tränen laufen ihr über das Gesicht. Ihr Brustkorb wird weit. Die Natur um sie herum nimmt Farben an. Sie sieht das helle Blau des Himmels. Das grün-bräunliche Meer mit den weiß schillernden Schaumkronen. Sie sieht das satte Grün unter ihren Füßen. Den roten Schnabel der Möwe. Farben, die sie schon lange nicht mehr gesehen hat. Da ist nur ständig dieses Grau um sie herum. Der Nebel, der ihr die Sicht versperrt. Die Schwere, die ihr den Atem nimmt. „Nein: War. Versperrte. Nahm.“, verbessert sie sich. Ja. Vergangenheit. Denn hier kann sie sehen. Kann atmen. Kann riechen und hören. Kann lachen und weinen. Kann sein. Wer? Das weiß sie noch nicht. Das spielt keine Rolle. Sie weiß nur, dass sie ein Stück näher zu sich selbst gefunden hat. Einen Teil in sich gefunden hat, an den sie sich kaum mehr erinnern konnte. Den sie nur noch ganz leise und zart in ruhigen Momenten vernommen hat. Der sich seit Jahren versucht hat zu melden. Den sie ignoriert hat. Bewusst. Dem sie nicht zuhören wollte. Nicht konnte. Nicht durfte. So war es doch, oder?

Schluss damit! Denkt sie. Das Fass ist übergelaufen, wie man so schön sagt. War es schon lange, weiß sie, wenn sie ehrlich zu sich ist. Doch ehrlich mit sich selbst zu sein, erfordert Mut. Und Kraft. Zwei Eigenschaften, die nicht unbedingt zu ihren Stärken gehörten. Die sie erst wieder finden musste. Erlernen musste. Sich zutrauen musste.

Sie blickt sich um. Ein Traum, denkt sie. Es muss ein Traum sein. Wie sonst habe ich es hier hingeschafft? Sie kneift sich in den Oberarm. Nein, sie ist wach. Sie hat es geschafft. Sie hat es wirklich geschafft. Endlich, denkt sie. Das war die richtige Entscheidung. Hier bin ich sicher. Oder?

Anmerkung:
Text: Juni2022.
Foto: Neuseeland 2011©Kristine.

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