Wege raus aus dem Dunkel
Perfekt projizierte Illusion
Perfekt projizierte Illusion

Perfekt projizierte Illusion

Den Blick aus dem Fenster gerichtet, sitze ich eingehüllt in eine Decke auf dem Sofa und starre ins Nichts. Meine Gedanken befinden sich irgendwo zwischen: Wie schlafen Delfine eigentlich und werden sie dabei nicht von der Strömung auseinandergetrieben, ich muss wirklich dringen pinkeln und ich habe absolut keine Lust mehr zu leben. Normale Alltagsgedanken eben. Die kommen und bleiben. Nicht kommen und gehen, wie es immer so schön heißt in der Achtsamkeit. In der Meditation. Nee, wieder gehen tut da gar nichts. Jedenfalls nicht so, dass es mir auffallen würde. Aber wer weiß schon, was mein Gehirn alles nicht registriert, während es damit beschäftigt ist, sich gleichzeitig über Delfine, den Sinn des Lebens und die Frage, ob Hafermilch eigentlich Milch heißen darf, Gedanken zu machen, sämtliche Geräusche im Haus wahrzunehmen, um potentiellen Gefahren zuvor zu kommen und parallel noch möglichst viel Anspannung durch  meinen Körper zu schicken. Multitasking at its best.

„Pling“, ich schrecke zusammen. „Wieso ist mein Handy auf laut?“, fluche ich genervt, obwohl die Antwort so einfach wie logisch ist: Es ist immer auf laut, DU könntest dich ja melden. Und das darf ich auf keinen Fall verpassen. Ich muss doch antworten. Sofort. Ohne Zeitverzögerung. Einen Anruf von dir verpassen? Undenkbar. Es könnte ja was Wichtiges sein. Ein Notfall. Wer weiß das schon. „Melde mich gleich“, erscheint auf meinem Display, mehr nicht. Was soll das denn heißen?! Du hast doch schon längst Feierabend, wieso rufst du nicht an? Du rufst doch immer nach Feierabend direkt an. Oft schon bevor du die Firma verlassen hast. Wieso jetzt nicht? Mir wird übel und ich überlege, was ich wohl Verkehrtes zu dir gesagt habe. Was ich falsch gemacht habe, dass du mich jetzt so hasst und offensichtlich nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Was so wichtig sein kann, dass es dich davon abhält, mich anzurufen.

Es ist bestimmt eine andere, denke ich. Kein Wunder, dass du dich nicht meldest. Hätte ich mir ja gleich denken können. War ja ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis du Kontakt abbrichst. Jetzt ist es wohl soweit. Angst, Trauer und Schmerz breiten sich in meiner Brust aus. Scharfe Messer richten ein Feld der Verwüstung in meinem Herzen an, während mein Blut durch meinen Körper schießt, als sei es auf der Flucht. In meinem Kopf breitet sich Schwindel aus, die Wände fangen an sich auf mich zu zu bewegen. Ich ringe nach Luft, meine Lunge scheint geschrumpft zu sein. Verzweifelt spüre ich die tsunamiartig heranrollende Panikattacke kommen.

„Don’t stop me now!“, schrillt mein Handy und tut genau das: Es unterbricht den raketenartigen Anstieg meiner Panik. Ein Blick auf das Display genügt: Dein Name steht dort: „Hey, sorry, ich musste länger arbeiten! War irre viel los heute, aber jetzt sitz ich im Auto. Jung, junge, das muss ich dir erzählen…“, sagst du und während du weitersprichst, atme ich tief durch: Alles ist ok. Du magst mich noch. Wir sind noch Freunde. Fehlalarm. Mal wieder. Der fünfte heute. Kann ja mal vorkommen, rede ich mir die Situation schön. Ich höre deiner Stimme zu, die fröhlich vom Arbeitstag berichtet. Die nächsten Stunden verbringe ich mit dir am Telefon. Wir lachen, singen, reden, schweigen. Das Leben ist schön. Es ist perfekt. Der Moment ist perfekt. Einfach, weil du in ihm bist.  

Du. Du bist mein ein und alles. Du bist der Grund für meine schlechte und meine gute Laune. Dazwischen gibt es nichts: Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt. Schwarz – weiß. On – off. Wenn du dich nicht meldest, geht die Welt unter, wenn du dich meldest, schwebe ich auf Wolke 7. Wenn du nicht anrufst, bin ich überzeugt davon, dass du mich hasst und du nicht einmal mehr weißt, dass ich existiere. Wenn wir miteinander sprechen, bin ich der glücklichste Mensch auf Erden, fühle mich sicher und geborgen. Rauf und runter. Eine Achterbahnfahrt neben der ohnehin schon achterbahnfahrtartigen Stimmungsschwankungen in meinem Leben. Mein Anker und der Sturm, der ihn aus der Verankerung reißt. Mein schönstes Maiwetter, meine Naturkatastrophe. Mein Wohlfühlort meine Hölle. Schatten und Licht. Wir sind alles, wir sind nichts. Ganz oder gar nicht. Eine Verbundenheit, von der ich nicht wusste, dass sie existiert. Existieren kann.

Niemand kennt mich so gut wie du. Ich weiß Dinge über dich, die du anderen nie erzählen würdest. Wir sind offen und ehrlich, kennen unsere Schwächen, haben uns in dunklen Phasen gestützt und immer gemeinsam gelacht. Egal wie schlecht es uns geht, wir finden immer etwas zum Lachen.

Perfekt, meinst du nicht? Merkwürdig, würden andere sagen. Ungesund, könnte man meinen. Endlich, ist das, was es am besten trifft. Alles oder nichts eben. Perfekt unperfekt. Eine perfekte Illusion einer unperfekten Freundschaft. Eine Projizierung meiner tiefsten Bedürfnisse auf eine Beziehung, die diese nie erfüllen könnte. Das tiefe hoffnungsvolle Festhalten daran, dass eine Beziehung im Jetzt meine Wunden von damals heilen kann. Mich heilen kann. Mich retten kann.

Denn ist es nicht das, was wir oft in Freundschaften, Partnerschaften oder sonstigen Verbindungen suchen? Wir projizieren unsere unausgesprochenen Hoffnungen und unerfüllten Wünsche auf unser Gegenüber. Verlieren uns im schlimmsten Fall dabei selbst und verharren in dem verzweifelten Glauben daran, dass diese Person die richtige für uns ist. Unsere Seelenverwandte. Unser Gegenstück. Der Topf zum Deckel. Das Ying zum Yang. Perfekt passend eben. Illusioniert. Wolkenschloss. Rosa rote Brille. Wunschdenken, könnte man auch sagen. Denn wir übersehen unbewusst bewusst die wild im Sturm schlackernd knallenden roten Flaggen. Die laut schrillenden Kleinigkeiten, die uns stören, die wider unserer Bedürfnisse gehen, die unsere Grenzen überschreiten. Wir übersehen sie, weil wir sie nicht sehen wollen. Nicht wahrhaben wollen, dass es Perfektion außerhalb unserer Vorstellung nicht gibt. Dass die perfekte Illusion keine Perfektion, sondern eine Projektion ist. Dass es nicht den perfekten Menschen gibt, der mir alle meine Bedürfnisse zu jeder Zeit erfüllt, dass es nicht die perfekte Beziehung gibt, die mich heilt, mich rettet. Dass es nur einen Menschen gibt, der meine Bedürfnisse erfüllen kann, mich heilen und retten kann und das bin ich selbst. Das Unperfekte sehen bedeutet Verantwortung für mich selbst zu übernehmen, aber wer will das schon?!

Doch mit dir ist es anders, versuche ich mich innerlich zu überzeugen, zu beruhigen. Zeitgleich weiß ich, dass das Quatsch ist, aber Ignoranz beruhigt. Der Gedanken, dass es ein „wir“ irgendwann nicht mehr geben wird, du mich nicht mehr brauchst und willst, wir uns nicht mehr gegenseitig unterstützen, miteinander lachen und uns Mut machen, lässt mich in kalten Schweiß ausbrechen. Ich zittere, als läge ich nackt im Schnee. Mein Herz schlägt so schnell, als hätte ich gerade einen Dauerlauf hinter mir und mein Bauch fühlt sich an, als würde ein wildgewordener Psychopath mit laufenden Kettensägen um sich schlagen. Einmal quer durch meine Eingeweide. Mir wird schlecht. Wie soll ich das überleben, denke ich?

Fünf Monate später weiß ich wie: Mit nicht enden wollenden Tränenwasserfällen, mit verquollenen Augen, mit einer Lunge, die sich anfühlt, als würde ein Elefant auf ihr sitzen, mit ständiger Übelkeit und Migräne. Mit einem kettenkarusselartigen Schwindel, mit unstillbarem Bewegungsdrang bei gleichzeitiger körperlicher Erschöpfung und Bewegungsunfähigkeit. Mit Unsicherheit, ob ich träume oder wach bin. Mit dem sicheren Gefühl, nie im Leben wieder jemanden kennen zu lernen, dem ich mich öffnen kann. Mit einer so starken Einsamkeit, wie man sie vermutlich nach Wochen auf einer einsamen Insel spüren würde. Mit der Überzeugung, dass meine Eingeweide sich gerade selbst verätzen und auflösen, anders kann ich mir den Schmerz nicht erklären. Und mit dem Wissen, dass all das, all dieser Schmerz, diese Verzweiflung, diese Hoffnungslosigkeit, diese Überforderung und Hilflosigkeit nicht nur durch den Verlust von dir entstanden sind, sondern seit Jahrzehnten in mir verankert sind. Tief in meinem Unterbewusstsein. Meistens gut versteckt. Tief in mir verbuddelt. Eingesperrt in einem Käfig aus Vergessen und Verdrängen.  Vermeintlich sicher verwahrt. „Ja“, denke ich, „vermeintlich“. Das trifft es gut. Vermeintlich. Denn jetzt es ist nicht mehr sicher. Es platzt heraus. Wie die Fontäne eines Geysirs schießt es sprudelnd und zischend an die Oberfläche. Wie feuerheiße Lava beim Vulkanausbruch: Von tief unten, glühend heiß und zerstörerisch. Verbrennt, was einst wunderschöne Natur war. Vergräbt alles unter sich. Zerstört, was da war.

Wieder sitze ich auf meinem Sofa, drücke mich tief in die Ecke, meine Decke habe ich fest um mich geschlungen, die Tasse Tee in meiner Hand ist seit Stunden kalt. Ich starre mit von Tränen verschleierten Augen aus dem Fenster. Sehe nichts. Sehe dich. Sehe mich. Verstehe nichts. Verstehe alles. Alles und nichts. Kann mich nicht bewegen. Starr und still harre ich aus. In Gedanken. In Erinnerungen. In Hoffnungen. In Illusionen. Im Nichts. Im Nebel.

„Du wirst es nicht glauben!“, ich zucke zusammen, bin für einen kurzen Moment orientierungslos. Verwirrt blicke ich mich um. Eve steht im Türrahmen. Lachend sieht sie in meine Richtung: „Du wirst es nicht glauben, aber mich hat gerade eine Fliege angepinkelt!“ „Bitte was?“, frage ich irritiert, versuche aus meinen Gedanken, aus meinem Schmerz, meiner Lethargie in die Realität zurück zu finden. „Mich hat eine Fliege angepisst! So n richtig dicker Brummer.“, wiederholt sie, bricht in Lachen aus und ich kann nicht anders, als mitzulachen. Trauer und Freude, so dicht beieinander. Alles und Nichts. Danke, denke ich. Danke liebe Fliege, für diesen Moment.

Anmerkung:
Text: Mai 2023. Oft projizieren wir unsere Bedürfnisse auf eine andere Person, sehen diese nicht so, wie sie ist, sondern so, wie wir sie sehen wollen und sind am Ende enttäuscht, wenn sie sich nicht so verhält, wie es unserer Illusion nach sein sollte.
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