TEIL I: Einführung
INTRO – Warum der Beitrag?
Im letzten Jahr wurde ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung) bei mir diagnostiziert. Vor ein paar Monaten habe ich dann angefangen, mich mehr damit zu beschäftigen. Was genau ist ADHS eigentlich? Was kann ich tun und was kann ist, wie es ist? Dabei habe ich festgestellt, dass “Frauen und ADHS” ein ganz eigenes Kapitel ist. Eigentlich wollte ich hier nur ein paar Seiten über ADHS allgemein, meine Erfahrungen, meine Symptome und meine Lösungsansätze teilen. Kurz. Knapp. Die Realität sieht anders aus: Zu viele spannende Fakten, die ich einfließen lassen wollte – jetzt ist es eine Serie geworden.
Du musst natürlich nicht alles lesen. Außerdem gibt es manchmal Teile, die erst durch ein draufklicken sichtbar werden. Diese sind durch: “hier klicken” gekennzeichnet.
Viel Spaß.
Disclaimer (hier klicken)
Ich bin Betroffene. Ich schildere meine Schwierigkeiten, die nicht mit denen anderer übereinstimmen müssen. Ich bin keine Fachperson. Vieles ist vermutlich sehr vereinfacht dargestellt. Fehler passieren. Mein Anspruch ist keine wissenschaftliche Darstellung, sondern einen Einblick in die Andersartigkeit von Menschen mit ADHS, insbesondere Frauen, zu gewähren, verbunden mit persönlichen Erfahrungen.
Seit bald 8 Jahren bin in ich mittlerweile nicht mehr in der Lage mein Leben so zu leben, wie ich es mir vorgestellt hatte und ich es gerne möchte. Zu stark sind die Einschränkungen. Seit dem befinde ich mich auf meinem persönlichen Heilungsweg mit vielen Diagnosen, Erfolgen, Hürden, Höhen und Tiefen. Im letzten Jahr wurde nun ADHS diagnostiziert.
ADHS wird momentan medial immer bekannter, allerdings kursieren auch häufig Fehlinformationen. Gerne hört man Sätze wie: „Wir haben doch alle ein bisschen ADHS.“ Das ist stigmatisierend für Betroffene und schlichtweg falsch. Deswegen möchte ich dir zeigen, was ADHS ist und was es für mich bedeutet.
Gucken wir uns zunächst an, was sich hinter dem Akronym ADHS versteckt.
ADHS – Ein erster Überblick
Wofür steht ADHS?
ADHS steht für „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“. Früher differenzierte man noch zwischen ADS und ADHS – diese Differenzierung wird nicht mehr getroffen, da man mittlerweile weiß, dass sowohl die Unaufmerksamkeit als auch die Hyperaktivität Teil eines breiten Spektrums sind und durch die Zusammenfassung eine präzisere Diagnosemöglichkeit besteht. Ich mag den Begriff „Störung“ persönlich nicht, weil es so klingt, als sei irgendetwas nicht in Ordnung. Der Begriff „Störung“ ist in unserer Gesellschaft negativ behaftet und stigmatisiert Betroffene automatisch.
Menschen mit ADHS sind nicht „gestört“. Mit ihnen ist alles in Ordnung, sie funktionieren nur anders, als neurotypische[1] Menschen. Die Struktur, Funktion und die Neurochemie in ihren Gehirnen ist eine andere, als bei neurotypischen Personen. Nicht falsch. Nicht gestört. Nur anders.
Man unterscheidet drei sogenannte Präsentationstypen[2]:
- Der vorwiegend unaufmerksame Typ
- Der vorwiegend hyperaktive-impulsive Typ
- Kombinierte Präsentation
In jeder dieser drei Formen tritt ADHS in verschiedenen Facetten und in verschiedener Ausprägung auf. Es gibt eine Vielzahl an Symptomen und Intensitäten, die in unterschiedlichen Variationen vorliegen können.
Zappelphilipp?
Grundsätzlich kann man beobachten, dass bei Jungen eher der hyperaktive Typ vorkommt, während Mädchen eher unter den unaufmerksamen Typ fallen. Das führte dazu, dass man früher davon ausging, dass ADHS vor allem eine Kinder- und insbesondere Jungen-Erkrankung sei. Der typische „Zappelphilipp“, der in der Schule nie ruhig sitzt, dauernd dazwischenredet und stört, fällt auf. Das ruhige, freundliche, zurückhaltende Mädchen, dass oft vor sich hinträumt, ist unauffällig. Das führt(e) dazu, dass ADHS bei Mädchen oft übersehen wird und Frauen erst im Erwachsenenalter eine Diagnose erhalten, wenn überhaupt. Es kommt nämlich erschwerend hinzu, dass Frauen aufgrund biologischer, sozialer und kultureller Faktoren oft angepasster sind und weniger auffällige Symptome zeigen, oder diese verstecken. Dieser Problematik war man sich lange nicht bewusst. Das spiegeln auch die – vor allem computerbasierten – Tests wider: Sie zielen eher auf den hyperaktiven ADHS-Typus ab.
Du und ADHS?
„Das ist ja alles schön und gut – aber DU und ADHS? Du hast doch immerhin zwei Staatsexamina erfolgreich bestanden. Das passt doch irgendwie nicht zusammen. Wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, dass eine ADHS bei dir vorliegen könnte?“
Berechtigte Frage. Ausschlaggeben für die Abklärung waren Gespräche in meiner Selbsthilfegruppe. Ich glaube, es ging um das Thema Medikamente. Irgendwer meinte, dass erst die ADHS-Diagnose und medikamentöse Behandlung spürbare Erleichterung im Alltag gebracht hat. Ich habe schon viele verschiedene Antidepressiva ausprobiert, nehme auch aktuell welche, bin dennoch fast tagtäglich mit den kleinsten Aufgaben am Kämpfen. Da kam mir ein neuer Lichtblick gerade recht.
Könnte das die Lösung sein?
Wer weiß. Mir sind aber verschiedene Ereignisse/ Emotionen aus meiner Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben eingefallen, die ich mir nicht erklären kann, mit denen ich aber schon immer gehadert habe und für die ADHS eine Erklärung darstellen könnte. Viele dieser Dinge habe ich mir mit dem Vorliegen von Borderline erklärt. Mittlerweile weiß ich, dass Borderline und ADHS viele Überschneidungen haben und das Vorliegen beider „Störungen“ nicht unüblich ist.
Irgendwie anders
So lange ich denken kann, habe ich immer das Gefühl gehabt, mit mir stimme irgendwas nicht. Ich sei irgendwie anders, passe nicht ganz rein, aber ich wusste nie warum. Sprüche wie „so ist sie eben“, bestätigten mir das und verunsicherten mich zugleich. Mir sind häufig kleine Missgeschicke/ Flüchtigkeitsfehler passiert. „Unachtsamkeiten“, wie manche es so schön nennen. Für mich klingt das nach: “Pass einfach mehr auf!!”. Doch ich habe mich ja bemüht und angestrengt – die Missgeschicke passieren dennnoch. Das hat mich oft traurigt gemacht und an mir zweifeln lassen, denn andere bekommen es doch auch hin?! Das geht soweit, dass ich mir ungern Gegenstände von Menschen ausleihe, aus Angst, sie zu beschädigen – egal wie sehr ihc ich anstrenge. Aus dem gleichen Grund bin ich ungern bei anderen Personen zu Hause. Mir passiert einfach viel zu oft irgendetwas „dummes“ – Dinge fallen runter, gehen kaputt oder ich verliere sie. Ein Grund, weshalb ich kein teures Geschirr besitze – es geht ohnehin am laufenden Band irgendetwas kaputt.
„So ist sie eben“
Aber so wollte ich nicht sein. Ich wollte reinpassen. Also habe ich mich bemüht immer fröhlich zu sein, zu lachen und mich möglichst an das Verhalten anderer anzupassen, um nicht zu stark aufzufallen. Oder, wenn das zu anstrengend ist, die Alternative zu wählen: Bewusst in einer Sache auffallen (z.B. mit bunter Kleidung), sodass sich darauf konzentriert wird und nicht auf alles andere. Ich habe mich bemüht, so zu tun, als ob alles in Ordnung sei und war darin ziemlich gut. Selbst wenn ich mich am liebsten nur verkrochen hätte – man hat es mir nicht angemerkt. Nach der Schule war ich so kaputt, dass ich mich meist ins Bett gelegt habe. Vollkommen erschöpft und ausgelaugt. Oft saß ich auch weinend im Zimmer oder lag abends weinend im Bett, einfach, weil ich das Gefühl hatte, nicht mehr zu können. „Ich kann nicht mehr, mir ist alles zu viel“ ist ein Satz, der ständig in meinem Kopf war. Was auch immer „alles“ ist – das wusste ich nie.
Aus den Augen, aus dem Sinn – Der Zeugnisvorfall
Wenn ich an die Grundschulzeit zurückdenke, fällt mir, neben Joghurtbechern die im Sportbeutel auslaufen oder Bananen die dort zerquetscht werden, ein Ereignis ein: Wir haben Zeugnisse bekommen. Ich habe es auf dem Weg nach Hause in der Hand gehalten, weil ich es nie im Leben auch nur ansatzweise unzerknüddelt in meinen Rucksack bekommen hätte. Auf dem Nachhauseweg haben wir kurz beim Kiosk gestoppt. Ich musste zum Bezahlen mein Zeugnis ablegen, auf den Zeitungsstapel. Bezahlen, Tüte mit Süßigkeiten entgegennehmen und ab nach Hause. Dass ich mein Zeugnis dort liegen gelassen habe? Daran habe ich nicht mehr gedacht. Mir ist erst aufgefallen, dass es fehlt, als ich zu Hause danach gefragt wurde.
Zettelchaos
Apropos Zettel: Während meiner Schulzeit (und auch jetzt noch) musste und muss ich mich extrem anstrengen, sämtlich Zettel in einem halbwegs OK Zustand zu halten und nicht zu verlieren, wenn möglich sogar einzuheften. Letzteres hat meist am Anfang des Jahres, dann nicht mehr funktioniert. Mir fehlte für sowas auch einfach die Geduld – es geht doch viel schneller, wenn man den Zettel einfach kurz irgendwo reinsteckt. Fertig. Oder – wie ich es jetzt meist mache – auf irgendeinen Zettelhaufen drauflegen. In der Hoffnung, die Motivation zum Einsortieren kommt irgendwann.
Einer meiner persönlichen Endgegner: Aufräumen
Das führt direkt zum nächsten Thema: Aufräumen. Aufräumen war schon immer ein Problem für mich: Erstens strengt es mich mental und sogar körperlich unfassbar an, zweitens weiß ich nie wohin mit den Sachen und drittens macht es für mich häufig keinen Sinn sie wegzuräumen, weil ich alles, was ich potentiell benutzen möchte/ brauchen könnte, sichtbar in meiner Nähe haben will. Wenn ich es wegräume, vergesse ich, dass es existiert. Oder ich räume es weg, habe für ein paar Minuten ein aufgeräumten Platz, bevor ich die Sachen wieder raushole, weil ich sie brauchen könnte. Was für eine Zeitverschwendung. Sobald ich einen Raum betrete, der aufgeräumt ist, dauert es kaum 5 Minuten, bis alles im Chaos versinkt und meine Sachen überall sind. Selbst wenn ich mich bemühe, dass dem nicht so ist. Ich verstehe nicht mal, wie das passiert. Und noch weniger weiß ich, was ich tun kann, dass dem nicht so ist.
“Halt doch mal die Luft an” oder auch: Reden wie ein Wasserfall
Ich rede viel und kann Stille nur schwer ertragen. Wenn es still ist, fühlt es sich für mich oft so an, als sei irgendwas nicht in Ordnung. Dann habe ich das Bedürfnis, die Stille mit Worten zu füllen. Stille ist bedrohlich. Ein Zeichen dafür dass irgendwas nicht stimmt. Auf der anderen Seite strengt es mich an, wenn jemand viel redet. Vor allem, wenn die Person langsam spricht – dann ist Zuhören eine Qual, meist drifte ich ab. Ich unterbreche Menschen oft, weil mir in der Sekunde ein Gedanke kommt, der raus muss, bevor ich ihn vergesse. Oder weil ich glaube zu wissen, was sie erzählen wollen. Wenn ich irgendwo zuhören „muss“, obwohl es mich nicht interessiert, fällt es mir schwer, konzentriert zu bleiben. In der Schul- und Studienzeit habe ich deswegen meist parallel mitgeschrieben oder vor mich hingemalt, um bei der Sache zu bleiben. Meine Lieblingsvorlesung in der Uni war die eines Professors, der unglaublich schnell durch das Thema gehechtet ist. Die meisten fanden es furchtbar, weil es viel zu schnell war. Für mich war es eine der wenigen Vorlesungen, in der ich tatsächlich mal konzentriert blieb.
Emotionsexplosion
Wenn ich aufgeregt bin (ob vor Freude, Trauer, Wut), werde ich beim Erzählen unbewusst immer lauter und schneller. Einfach, weil so viele Emotionen da sind, die über das Erzählen transportiert werden und raus wollen. Ich kann mich über Kleinigkeiten freuen, als wäre es ein Lottogewinn. Aufregen funktioniert genauso.
Man hört doch mit den Ohren?!
Wenn ich mich mit einer anderen Person unterhalte, muss ich mich oft daran erinnern, dass man der anderen Person in die Augen gucken sollte. Das macht man so, habe ich gelernt. Teilweise fällt mir das extrem schwer und in meinem Kopf läuft dann in Dauerschleife: „Nicht weggucken, angucken.“, was dazu führen kann, dass ich nicht so ganz mitbekomme, was mein Gegenüber mir erzählt. Nicht immer, aber oft finde ich es leichter zuzuhören, wenn mein Blick abgewandt ist. Macht doch auch Sinn, man hört ja mit den Ohren, nicht mit den Augen.
Superpower: Dinge verschwinden lassen oder auch: „Wo ist mein Handy?“
Ich verliere bzw. verlege am laufenden Band Dinge. In der Schule verging kein Tag, an dem nicht einmal die Frage von mir kam: „Wo ist mein Handy?“. Ich weiß nicht, wie viel Lebenszeit ich schon mit Suchen von Dingen wie Schlüssel, Telefon, Geldbeutel, Schal, Mütze, Jacke, Einkaufsbeutel, etc verbracht habe.
Energie-Achterbahn
Ich habe entweder viel Energie oder fast keine. Das kann sich von einer Sekunde auf die andere ändern. Gerne auch ohne Vorwarnung.






Studium
Während meines Studiums habe ich keine der Übungsklausuren in den angesetzten 5 Stunden geschrieben – mehr als 3 – 4 Stunden habe ich nicht ausgehalten. Und das war schon hart. Denn wie soll man konzentriert bleiben, wenn es für nichts zählt? Und der Inhalt unfassbar langweilig ist? Während des Lernens für mein Examen lief den ganzen Tag der Fernseher, der neben mir auf meinem Schreibtisch stand. Die einzige Möglichkeit, meine Konzentration halbwegs aufrecht zu erhalten. Überall klebten Post-Its im Zimmer, damit ich bestimmte Definitionen nicht vergesse. Also nicht vergesse, dass sie existieren.
So much more
Wenn ich weggegangen bin, habe ich fast immer Alkohol getrunken, teilweise schon vorher. Anders erschien mir es manchmal unmöglich, in soziale Kontexte zu gehen. Ich kann mich extrem schnell für neue Sachen begeistern, das Interesse daran aber genauso schnell verlieren, obwohl ich vorher der Überzeugung war, dass das jetzt das richtige für mich ist. Um mich herum sind überall Tassen, Teller und Schüsseln verteilt – teilweise mit Getränkeresten. Wenn ich in die Küche gehe, um mir einen Kaffee zu machen, steht zu 99% danach die Schranktür offen, aus der ich die Kaffeetasse geholt habe. Allgemein stehen in unserer Wohnung viele Schranktüren offen. Mein Kleiderschrank erstreckt sich auf den Fußboden und vor allem auf die Couch im Wohnzimmer. Sobald mein Bruder das Haus verlässt, bricht Chaos überall aus und vermehrt sich bis zu dem Tag, an dem er wieder kommt und ich in Panik zumindest die Küche und sein Bett aufräume. Ich fange viele Dinge an, bringe viele davon nicht zu Ende. Gerade der letzte Teil, bei dem es an die Feinarbeit geht, ist ein Graus für mich. Ich kann mich manchmal stundenlang mit Malen, Fotos bearbeiten oder schreiben beschäftigen, an anderen Tagen nicht mal eine Minute. Ich versuche Routinen einzubauen, vergesse nach ein paar Wochen von einem Tag auf den anderen aber, dass ich welche hatte. Wenn morgens eine E-Mail im Postfach ist, die mir mitteilt, dass Geld abgebucht wurde und das Paket verschickt wird, weiß ich bestimmt in 50% der Fällen nicht mehr, was ich bestellt habe, obwohl es am Tag vorher noch lebensnotwendig erschien. Im Supermarkt trage ich oft Noise-Cancelling-Kopfhörer, mal mit, mal ohne Musik, um von den ganzen Reizen nicht zu abgelenkt zu sein. Manchmal sage ich laut die Dinge vor mich her, die ich einkaufen möchte, weil ich sie sonst vergesse. Auch wenn sie auf meiner Liste stehen, die in meiner Hosentasche steckt. Ich habe Schwierigkeiten mich zu entspannen. Sobald ich mich hinsetze, um mich auszuruhen, ergreift mich eine innere Rastlosigkeit und das Bedürfnis, irgendetwas zu tun. Auch wenn die Kraft dafür fehlt. Oft möchte ich etwas auf dem Handy nachgucken und merke nach über einer Stunde, dass ich mir einfach nur Instagram-Reels angucke und absolut keine Ahnung mehr habe, was ich eigentlich tun wollte.
Das ist ein kleiner Einblick/ Überblick. Nicht vollständig. Nicht abschließend. Der ganze emotionale Teil fehlt noch, aber das würde hier den Rahmen sprengen.
DIAGNOSTIK
Computerbasierter Test
Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich nicht mehr an alle Einzelheiten des Prozesses erinnern. Es ist zwar „nur“ 1,5 Jahre oder so her, aber ich vergesse Sachen oft, gerade, wenn es mir ohnehin nicht so gut geht, ich aufgeregt/ angespannt bin oder mir die Dinge nicht so wichtig erscheinen. Wann welche Arzttermine sind und wie die Ärzte zu ihrer Diagnose kommen, ist mir oft egal. Was ich weiß ist, dass ich einen Test am Computer ausfüllen musste. Dieser Test bestand aus drei verschiedenen Teilen. Das Ergebnis: Zwei von drei Teilen wiesen auf eine ADHS hin, ein Teil war „inconclusive“. Also kein ADHS? So einfach ist es nicht, denn hier traten bei mir zwei Schwierigkeiten auf: Zum einen ging es um die die Zeit vor meinem zwölften Lebensjahr, da für eine ADHS-Diagnose Symptome bereits dann vorgelegen haben müssen. Das Problem hier: Ich habe kaum Erinnerungen an diesen Teil meines Lebens. Ich habe insgesamt sehr große Erinnerungslücken, was meine Kindheit und Jugend betrifft. Zum anderen trat hier die oben kurz angerissene Problematik auf: Dieser Teil war eher auf den im Außen hyperaktiven ADHS-Typ zugeschnitten. Insofern war es gut, dass im Anschluss Gespräche geführt wurden, um etwaige Test-Defizite auszugleichen.
EXKURS: Das Problem der ADHS-Diagnostik bei Mädchen und Frauen (hier klicken)
Das Problem ist, dass die ADHS-Diagnostik der Forschung ein wenig hinterher hängt. Man ging früher davon aus, dass ADHS eine Kindererkrankung ist, die vor allem bei Jungen auftritt. Mittlerweile weiß man, dass sie auch bei Mädchen auftreten und sich erst im Erwachsenenalter zeigen kann. Die Forschung war jedoch Jahrzehnte vor allem auf männliche Personen fokussiert, was dazu führt, dass eine Diagnose bei weiblichen Personen oft erschwert ist und häufig erst später erfolgt.
Aufgrund genetischer sowie sozialer Umstände, zeigt sich ADHS bei weiblichen Personen oft anders. Während es gesellschaftlich akzeptiert und „normal“ ist, dass Jungs laut und wild sind, wird Mädchen suggeriert, dass sie „brav, ruhig und nett“ zu haben sein. Ein „gutes“, ein „braves“, ein „verantwortungsvolles“ Mädchen. Wenn sie schnell und emotional stark reagieren, werden sie als „Dramaqueen“ abgestempelt, was eine negative Konnotation beinhaltet. Mädchen internalisieren soziale Normen und Erwartungen oft mehr, als Jungen. Das kann dazu führen, dass weibliche Personen (unbewusst) sehr früh anfangen, zu maskieren. Sie neigen mehr als männliche Personen dazu, es anderen recht machen zu wollen und sich anzupassen. Außerdem fangen sie an, sich für Gefühlsausbrüche zu schämen.
Hinzu kommt, dass Menschen mit ADHS die Welt ein bisschen anders wahrnehmen und somit oft Schwierigkeiten haben, in unserer Leistungsgesellschaft angenommen zu werden und zurecht zu kommen.
All das führt dazu, dass sie mit aller Kraft versuchen, Symptome zu verstecken oder abzumildern. Das passiert in der Regel – gerade im jungen Alter – nicht bewusst. Es führt aber dazu, dass das wahre Naturell der Person verdeckt wird und eine Diagnose erschwert wird. Man nennt das Verstecken der Symptome oder Verhaltensweisen „maskieren“. Es ist, als würde die Person eine Maske aufsetzten, wenn sie sich in sozialen Kontexten befindet.
FACTS: Was bedeutet Maskieren? (hier klicken)
Was genau bedeutet Maskieren?
Maskieren ist ein Abwehr- oder auch Schutzmechanismus. Personen mit ADHS haben aufgrund ihrer Andersartigkeit oft viel Kritik, Missverständnisse oder Ablehnung erfahren, sodass sie einen Weg suchen, ihre Symptome zu verbergen. Ihnen wurde häufig suggeriert, dass mit ihnen etwas nicht in Ordnung ist, man sich so nicht verhält o.ä. Durch das Imitieren von „neurotypischen“ Verhaltensweisen versuchen sie sich anzupassen und weniger (negativ) aufzufallen. Oft erfolgt die Anpassung automatisch und unbewusst, da es bereits früh erlernt und zur Gewohnheit wird. Es hilft, um sich in der Gesellschaft besser integriert und akzeptiert zu fühlen. Außerdem wird so einer Stigmatisierung vorgebeugt. Die Kosten für das Maskieren – ein krasser Energieaufwand – wird übersehen.
Nicht jede Betroffene maskiert in der gleichen Art und Weise und im gleichen Ausmaß. Das Maskieren kann sich z.B. in einem exzessiven Vorbereiten von Aufgaben zeigen, um Kritik und Fehlern im Vorhinein zu begegnen. Es kann sich im Nachahmen von neurotypischem Verhalten äußern (z.B. auch im Spiegeln der Verhaltensweisen des jeweiligen Interaktionspartners), im Unterdrücken von Impulsen, in strengen Routinen und Listen, um die Unorganisiertheit zu verbergen, im Überspielen von Emotionen und Erschöpfung. Übermäßige Fürsorge und der Drang, es allen anderen Recht zu machen, ohne auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, fällt ebenfalls darunter, genauso wie Perfektionismus.
All das führt dazu, dass eine Diagnose erschwert oder verzögert wird
Persönliches Gespräch
Im persönlichen Gespräch wurde natürlich auch über die Erinnerungen an die Kindheit gesprochen und versucht die Frage zu klären, ob die Symptome bereits in der Kindheit auftraten. Aber dort kann man zumindest den persönlichen Einzelfall besprechen, was in einem computerbasierten, automatisch ausgewerteten Test natürlich nicht möglich ist. Dennoch, die Problematik bleibt: Waren früher Symptome sichtbar, wurden sie maskiert oder gab es keine? Das ist eine extrem schwierige Frage, denn woher soll man das wissen? Es ist ja nicht so, als ob man sich als Kind bewusst sagt: Ach, irgendwie ist das schwierig so, ich glaube, ich maskiere mal meine Symptome. Ich habe also von den Dingen erzählt, die ich euch oben bereits berichtet habe.
Kann ich also mit Sicherheit sagen, dass vor meinem zwölften Lebensjahr Symptome da waren? Nein. Was ich weiß ist, dass immer schon ein Gefühl da war von: „Ich bin anders, gehöre nicht dazu, muss mich anpassen, damit ich gemocht werden.“ Ein Gefühl von: „Ich weiß nicht genau, wie man reagieren muss, ich gucke mal, was andere machen und tue das, was erwartet wird.“ Noch heute überlege ich in Gesprächen regelmäßig, was wohl die „normale“ Reaktion wäre, anstatt einfach so zu reagieren, wie ich es tun würde. Zu groß ist die Angst, anzuecken und mich erklären zu müssen.
All das hat im Ergebnis ausgereicht, die Diagnose zu stellen. Dabei gehöre ich zum gemischten Typ. Es liegen sowohl Elemente der Hyperaktivität, als auch der Unaufmerksamkeit vor – letzteres wohl etwas stärker.
AUSBLICK
Doch was genau beinhalten die Kernsymptome „Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit“? Darauf gehe ich im Folgenden ein.
Da das Element der Unaufmerksamkeit bei mir am Stärksten ausgeprägt ist, fangen wir damit an.
[1] Neurotypische Personen = Menschen, deren Gehirnentwicklung in der Gesellschaft als „normal“ angesehen werden. Was mE bereits kritisch zu sehen ist, aber das ist ein anderes Thema.
[2] Vgl. ICD-11.