Die Welt dreht sich weiter. Jeden Tag, jede Stunde, Minute, Sekunde. Immer. Ganz egal was passiert, sie dreht sich immer weiter. Vollkommen egal wie es dir geht, wie du dich fühlst, ob du dich verkriechen willst oder die Welt umarmen könntest. Der Moment ist flüchtig. Vergeht. Die Erde dreht sich weiter. Sichtbar. Immer.
Die Sonne strahlt am Himmel
Du kannst es an der Sonne sehen, die über das Himmelszelt wandert. Die auf- und untergeht. Naja, scheinbar über das Himmelszelt wandert und ihre Stellung verändert. Mal länger, mal weniger lang da ist, bevor sie wieder verschwindet. Aber du weißt, sie kommt wieder.
Tidenhub
Du kannst es an Ebbe und Flut erkennen – mal ist mehr, mal weniger Wasser da. Gefühlt. Denn es sieht so aus. Aber natürlich ist immer gleich viel Wasser vorhanden – wie sollte es sonst auch funktionieren?
Der Mond wacht still
Du kannst es anhand des Mondzyklus beobachten – der circa einen Monat dauert. Der Mond nimmt ab und wieder zu. Jeden Abend bzw. jede Nacht sieht er ein klein wenig anders aus. Vielleicht kaum sichtbar, aber doch irgendwie anders.
Alles eine Täuschung?!
Und obwohl alle diese Zyklen sich ständig verändern, haben sie doch eines gemein: Sie täuschen dir etwas vor, was nicht stimmt. Die Sonne geht nicht wirklich unter und ist weg – sie ist genau so vorhanden, wie mittags. Nur die Position der Erde in Bezug auf die Sonne hat sich verändert. Ein anderer Blickwinkel eben. Es hat keine Potenzierung des auf der Welt vorhandenen Wassers bei Hochwasser gegeben – nur die Verteilung verändert sich. Der Mond verschwindet nicht langsam, er wird nur weniger von der Sonne angestrahlt.
Veränderungen sind real
Und dennoch: Die Veränderungen sind real. Nur eben anders, als das Offensichtliche. Es ist nicht die Sonne, die unter geht, es ist die Erde, die sich dreht. Es ist nicht mal mehr und mal weniger Wasser auf der Welt vorhanden, nur die Verteilung ändert sich. Aber ist es nicht beruhigend zu wissen, dass wir immer wieder am gleichen Punkt ankommen? Ja, die Erde dreht sich weiter, Zeit vergeht, aber immer im gleichen Rhythmus. Das hat etwas Verlässliches. Etwas Kontrollierbares, wenn auch Unveränderbares. Es ist beruhigend.
Flüchtige Momente
Manchmal wünschte ich mir, es wäre auch im Leben so. Natürlich gibt es auch dort verlässliche Zyklen: Du wirst jeden Moment ein wenig älter. Veränderst dich. Erweiterst deine Erinnerungen. Vergisst. Lernst. Jeder Moment verändert dich. Das Leben an sich ist ein Zyklus. Unaufhörlich – bis du irgendwann am Ende angekommen bist und die Erde verlässt. Aber was ich meine ist, dass ich mir wünschte, es wäre bezogen auf die Gefühlswelt genauso verlässlich wie Flut und Ebbe.
Auf Regen fogt meist Sonnenschein…
Ja, man sagt zwar „auf Regen folgt meist Sonnenschein“. Nach einem Tiefpunkt kommt also wieder etwas Schönes – wobei man sich natürlich fragen kann, wieso Regen etwas „Schlechtes“ sein soll. Aber das ist hier nicht das Thema. Auf Regen folgt meist Sonnenschein… Aaaaaber – genau das ist das Problem. “Meist”. Es ist nicht verlässlich. Ich kann es nur hoffen. Hoffen, dass nach einer schlechten Phase eine bessere folgt. Mir einreden, dass nach einem Tief ein Hoch kommt. Aber ganz ehrlich: Wer kann das schon wissen? Niemand. Naja, vielleicht stimmt die Annahme, es komme etwas Positives, wenn man das Große und Ganze anguckt. Irgendwann kommt vielleicht der Moment, in dem ich mich besser fühle. Nur… Vielleicht folgt einer nicht so guten Phase erst einmal eine noch schlechtere Phase. Und noch eine. Und noch eine. Bis es eben nicht mehr weiter geht. Und ja, vielleicht geht es dann irgendwann wieder bergauf. Vielleicht geht es dir, geht es mir irgendwann besser.
ABER WANN BITTE IST IRGENDWANN?!
Das kann dir keiner sagen, denn keiner weiß es. Es ist nicht wie der Mond, der in regelmäßigen Abständen “ab-” und “zunimmt”. Es ist nicht die Ebbe oder Flut, auf die man sich verlassen kann. Es ist das Leben. Unkontrollierbar. Unzuverlässig. Das macht es spannend – heißt es oft so schön. Ja, wenn du ein halbwegs normales Leben führst vielleicht. Aber nicht, wenn du jeden Tag am Kämpfen bist, jeden Tag versuchst gegen die Dämonen in deinem Kopf anzukommen. Nicht, wenn du jeden Tag aufwachst und hoffst, dass es ein halbwegs normaler Tag wird. Ohne inneren Kampf. Dass die Stimmen im Kopf leiser sind. Dass der Verletzungsdrang nicht da ist. Dass der Suchtdruck nicht kommt. Dass du dich nicht mehr so taub fühlst. Nicht mehr so angespannt bist. Nicht, wenn das jeden Tag passiert. Dann ist es alles andere als spannend. Es ist erschöpfend! Sch*, wenn man es genau nimmt.
Ruhe dank Mond
Und dennoch: Mich beruhigt der Mond. Der Mondzyklus. Der Mond hat etwas Entspannendes an sich. Er strahlt Ruhe aus. So wie er da am dunklen Himmelszelt steht und weiß scheint. Mal komplett, mal nur zur Hälfte. Aber immer ist er da. Genau wie du. Du, als Mensch. Ich als Mensch. Ich als Person. Ja, die Erkrankung mag überhand nehmen an vielen Tagen. Ja, manchmal, im Augenblick eher meistens, kann ich den angeblich vorhandenen „gesunden“ Menschen in dem ganzen Chaos nicht mehr erkennen, nicht mehr finden. So wie ich nicht sehe, dass der Mond da ist, wenn er dunkel ist. Und so wie ich mich von der scheinbaren Abwesenheit des Mondes, des Wassers oder auch der Sonne täuschen lasse, so geht es mir in Bezug auf mich selbst: Oft glaube ich, ich sei jemand anderes. Sei nicht da. Sei irgendwo anders. Anders als wer eigentlich? Und wo? Gute Frage, aber darauf habe ich keine Antwort. Anders eben. Nicht ich. Nicht hier. Nicht du. Niemand. Oder zu viele. Wer weiß das schon…
Täuschung hin oder her
Aber: Der gesunde Anteil der Person ist noch da! Er mag nicht sichtbar sein, aber er ist da. Irgendwo da drin. In dem Körper. Im Kopf. So wie der Mond da ist. Die Sonne auch. Und das Wasser sowieso. Zumindest ist das die Hoffnung. Eine Hoffnung, an die ich mich versuche zu klammern. „Vertrau’ dem Prozess!“, sagt ein wertvoller Mensch oft zu mir. Vertraue dem Prozess… Also der Veränderung. Dem Zyklus. Vertraue darauf, dass nach einem Tief ein Hoch kommt. Hoffe. Habe Zuversicht. Denn wenn das weg ist, dann bleibt nicht mehr viel. Nichts, wenn ich ehrlich bin… Gar nichts… Nur Dunkelheit.
Anmerkung:
Text: März 2022.
Foto: Februar 2022©Kristine.